Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
unseresgleichen.« Stephan bemühte sich, seinen Ärger zu beherrschen. Sowohl Beatrix als auch Asharti wussten das. Es machte Beatrix nervös. Asharti machte es kühn.
»Was, wenn ich gar nicht erlöst werden will?« Wie konnte Asharti es wagen, Stephan so herauszufordern, und warum ließ er es zu? Er schien Asharti gegenüber nachsichtiger zu sein als Beatrix gegenüber.
»Wenn du so alt bist wie ich, wirst du anfangen, den Wert des Schwures und das Kloster Mirso zu schätzen.«
»So alt, wie du bist«, schnaubte Asharti und zog die fein geschwungenen Augenbrauen hoch. »Du bist nicht alt.« Sie saßen in dem Zimmer ganz oben im Turm. Das kostbare Glas der Fenster diente nicht mehr dazu, das Sonnenlicht hereinzulassen, sondern an die Wände des Raums den schimmernden Sternenschein des Nachthimmels zu malen. Stephan liebte es, sie hier zu unterrichten, ganz so, als könnte die Nähe zum Universum ihre Seelen weit machen.
»Über tausend Jahre«, sagte er und hob einen Finger, als Asharti schon protestieren wollte. »Ich wurde geboren, als die Karpaten noch den Namen Dacia trugen. Wir waren Teil des römischen Kaiserreiches. Das Joch der Römerherrschaft war hart, doch die Römer führten uns heraus aus Stammesfehden und Brutalität.« Seine Augen glänzten, als seine Gedanken in eine andere Zeit reisten, an einen anderen Ort. »Ich dachte, ich würde es nie müde werden, Blut zu trinken, und das Leben durch meine Adern strömen zu fühlen. Jetzt finde ich Trost in der Tatsache, dass ich mich eines Tages den Mönchen anschließen kann, die fasten und ihren Gefährten hungern lassen, bis ihre Bedürfnisse gering sind, bis ihre Macht geschwunden ist und ihr Schmerz und ihre Erinnerungen fort sind. Auf gewisse Art erhält es uns geistig gesund zu wissen, dass es einen letzten Schutz gibt: indem wir den Schwur ablegen.«
Beatrix schauderte; sie konnte sich nichts Schrecklicheres als das vorstellen. »Auf welche Weise schützt er uns?«
Stephan starrte in die Sterne. »Der Schwur schützt uns, weil man sich nicht davon lossagen kann. Und er schützt uns vor uns selbst. Einmal abgelegt, bedeutet das Sicherheit. Dann sind wir in Sicherheit.«
»Natürlich kann man sich davon lossagen. Alles, was man tun muss, ist, fortzugehen«, widersprach Asharti. Beatrix konnte den Zorn ihrer Schwester spüren. Asharti hasste es, kontrolliert zu werden, besonders von Ältesten, die sie nicht kannte.
Stephan unterdrückte etwas, das wie ein Lächeln aussah. »Nur im Tod, mein Schatz.«
»Du hast gesagt, es sei nahezu unmöglich, Selbstmord zu begehen«, bemerkte Beatrix vorsichtig.
»Und so ist es auch. Der Drang des Gefährten zu leben ist stark, selbst wenn man dem eigenen Körper so viel Schaden zufügen kann, dass er stirbt.«
Beatrix erschauerte erneut. Stephan sagte, dass die Abtrennung des Kopfes nötig sei, um einen Vampir zu töten. Die Enthauptung war etwas, das ihr Gefährte nicht heilen konnte. »Dann …«
»Ich habe von Tötung gesprochen«, erwiderte er in jener ruhigen Stimme, die er sich für die brutalsten Fakten ihres Lebens vorbehielt.
»Sie würden einen der Ihren töten?«, fragte Asharti zornig. »Ich würde sie umbringen!«
»Ja, das würden sie«, sagte er und ignorierte ihre zweite Bemerkung. »Wenn man sich vom Schwur lossagen könnte, welchen Schutz würde er dann noch bieten?«
»Wieso weißt du so viel über diesen Schwur, wenn niemand, der ihn abgelegt hat, das Kloster je verlassen kann?«, fragte Asharti und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Ich wurde in Mirso geboren, von einer Frau, die Zuflucht suchte und hochschwanger dort ankam. Ich bin aufgewachsen, um Rubius zu dienen.« Er holte tief Luft. »Eines Tages sagte Rubius zu mir, ich müsse hinausgehen in die Welt, um das Leben kennenzulernen, bevor ich zurückkehren könnte. Er hat mich regelrecht vertrieben. Es widerstrebte mir, mein Gefängnis zu verlassen, aber nachdem die Türen sich erst geöffnet hatten, habe ich alles getan, alles erfahren: Freundlichkeit, Brutalität, intellektuelle Höhenflüge, sexuelle Verderbtheit … Alles.« Seine braunen Augen starrten auf die kalten Sterne. »Und allmählich begann all das mich zu langweilen. Wenn man alles getan hat, wieder und wieder, bis man die Zerstörung seiner Hoffnungen bis ins letzte Detail vorhersagen kann, was bleibt dann noch übrig?«
Beatrix zitterte. »Aber so bist du jetzt nicht mehr. Was hat sich geändert?«, wisperte sie.
Er zwang sich zu einem Lächeln.
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