Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
einen Finger. »Ihr müsst bei mir bleiben, damit wir am selben Ort landen. Die Translokation wird ein wenig wehtun. Seid also darauf vorbereitet.« Er hob seinen Umhang, und die beiden Mädchen schmiegten sich an ihn, jede an eine Seite.
»Ruft jetzt euren Gefährten«, befahl er.
Beatrix stellte in Gedanken eine Verbindung zu dem einen her, der ihr Blut mit ihr teilte. Gefährte, komm zu mir.
Sie spürte einen prickelnden Strom von Kraft durch ihre Adern rauschen. »Noch einmal«, hörte sie Stephan sagen, nun schon von weiter entfernt, wie es ihr schien. Gefährte! Die Welt um sie wurde dunkel. Sie konnte nicht einmal mehr Stephan neben sich spüren. Das Prickeln wurde stärker und stärker, und Beatrix war sich nicht sicher, dass sie noch die Kontrolle darüber hatte. Es umfloss sie, beherrschte sie. Ihr Gefährte schrie nach Leben und nach Macht. Schmerz erfüllte Beatrix. Die Welt verschwand. Und dann war der Schmerz vorüber. Die Welt tauchte wieder auf. Sie spürte, dass Stephan sie an den Schultern hielt. Aber es war eine andere Welt als die, die sie hinter sich gelassen hatten; es war eine dunkle kleine Straße, die nach Kohl und Urin stank. Eine Reihe von Häusern, alle im gleichen Zustand des Verfalls, säumten beide Seiten des schmalen, schmutzigen Durchgangs. Laute, tiefe Stimmen und schrilles Lachen drangen aus dem größten Haus zu ihnen heraus. »Voilà!«, verkündete Stephan. »Der Hof des Rose and Thorn in Sigishoara.«
Beatrix schaute sich um und versuchte sich zu orientieren. »Wir können das immer tun … immer, wenn wir es wollen?«
»Es erfordert viel Energie. Es gibt Grenzen«, warnte Stephan. »Und es erfordert Übung.«
»Freiheit!«, zischte Asharti. Ihre Augen glühten.
Stephan nickte und lächelte. »Der nächste Mann, der aus der Tür kommt, gehört dir, Bea. Tu das, was ich dich gelehrt habe. Trink nur ein wenig Blut, denn wir werden es heute Nacht noch einmal üben.«
Asharti hängte sich an ihn und rieb sich wie eine Katze an ihm. »Stephan, ich bin hungrig. Ich will als Erste gehen«, verlangte sie schmollend. Beatrix gefiel es nicht, wie Asharti in den letzten Wochen begonnen hatte, Stephan zu behandeln. Diese Art von süßlichem Benehmen brachte Beatrix’ Blut zum Kochen. Das Verwirrende daran war, dass Stephan nicht versuchte, es zu unterbinden.
»Du kommst auch noch an die Reihe.« Stephan zog sie mit sich und spähte um die Hausecke. Er nickte Beatrix zu, als die Tür der Taverne aufgestoßen wurde. Licht und Lärm drangen heraus auf die schmale, dunkle Gasse. Aber der Mann, der heraustaumelte, war grauhaarig. Sein Gesicht war von einem frühen Zusammentreffen mit den Pocken gezeichnet.
Beatrix zuckte zurück und schüttelte den Kopf. »Ich mag ihn nicht.«
»Du musst sie nicht mögen, Bea. Sie sind nur Nahrung«, sagte Stephan ärgerlich. Vor Asharti war er noch nie gereizt zu ihr gewesen.
»Kann ich nicht jemanden nehmen, der hübscher ist?«
»Bea wird noch ewig brauchen. Halt mich fest, Stephan, um mich zu wärmen.«
Stephan legte seinen Arm um Asharti. Beatrix beschloss, dass der nächste Mann, der aus der Tür kam, ihren Hunger zu spüren bekommen würde, und wenn es ein Leprakranker war. Der ältere Mann schwankte die Straße hinunter. Es war spät. Der Mond stand hinter den Häusern. Sicherlich würden auch die anderen Männer bald herauskommen, um nach Hause zu gehen. Sie wandte sich der Tür zu, die nun wieder geöffnet wurde. Ein Mann stolperte ins Freie und fiel auf Hände und Knie. Wenn er sich nur nicht erbricht , dachte Beatrix, als sie um die Hausecke glitt. Der Mann rappelte sich wankend auf und schaute sich um, um sich zu orientieren.
»Guten Abend«, sagte Beatrix leise in der Sprache des Landes Dakien, in dem die Burg Sincai stand. Der Mann war jung, wenn auch nicht so jung wie sie oder Asharti, und er war grobschlächtig. Es hätte schlimmer kommen können. Stephan hatte sie gelehrt, ihren Gefährten leise zu rufen, sodass er sanft nach ihrem Gebot ihre Adern hinaufglitt und sie nicht überwältigte, wie er es tat, wenn sie hungrig und verzweifelt war.
Der junge Mann sah sie mit seiner eigenen Art von Hunger in den Augen an. »Was ist denn?«, fragte er. Aber Beatrix hatte schon ihre Augen rot aufglühen lassen. Sie hatte ihn.
»Komm mit mir.« Sie zog sich zurück in den Schutz des engen Hofes. Der junge Mann, mit trübem Blick jetzt, folgte ihr. Als sie dort standen, wo niemand sie sah, hieß sie den Mann auf die Knie gehen. Warum
Weitere Kostenlose Bücher