Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
ist ganz und gar nicht traditionell.«
»Ich würde Blakes Sicht auf Gott keinesfalls als traditionell bezeichnen«, protestierte John.
»Er glaubt, dass es einen gibt. Das an sich ist bereits traditionell.« Sie klopfte mit dem Finger auf ihre Lippen. »Aber dann ist da ja noch sein Sinneswandel …«
John fühlte, wie er errötete. Vielleicht offenbarte die Nennung des Lieblingsdichters doch zu viel von einem selbst. »Sie meinen die ›zweite Unschuld‹?«
»Wie sonst könnte man glauben, dass man ein Wesen mit der Fähigkeit zu staunen sein kann, selbst wenn man alle Schrecken der Welt gesehen hat?« Lady Lentes Stimme wurde leise. »Vielleicht ist es ja nur die Hoffnung, nicht der Glaube.«
John fühlte sich, als wäre seine Seele bloßgelegt. Er suchte nach einer Möglichkeit, vom Thema abzulenken, als die Gräfin sich unvermittelt erhob. Die Unbekümmertheit schien von ihr abzufallen. Er hatte sie noch nie so voller Energie gesehen.
»Kommen Sie«, sagte sie. Die grüne Seide, die sie trug, raschelte. Sie ging zum anderen Ende des großen Salons und stieß die Flügeltür auf. John goss sich noch einen Brandy ein und folgte ihr langsam, um nicht zu beflissen zu wirken. Er folgte ihr in einen sehr viel privateren Raum. Magazine lagen auf dem Boden verstreut, Papiere waren auf einem Schreibtisch verteilt, eine Teetasse stand darauf, die noch halb voll war. Hier also wohnte die Gräfin.
Sie schaute sich um. »Nun? Wollen Sie kommen und schauen oder nicht?«
John nippte mit dem Anschein von Lässigkeit an seinem Brandy. »Ich kann auch von hier aus alles sehr gut sehen.«
Was er sah, waren zwei Gemälde, die nebeneinander hingen. Ein Blick auf die anderen Wände verriet ihm, dass ihre Kunstsammlung sogar noch größer war, als die Gemälde in dem großen Salon vermuten ließen. Fragonard, Rubens, ein grübelnder Goya, nur die Besten. Die Gräfin war eine Frau von Welt, und offensichtlich eine reiche. Er kehrte zu den beiden ersten Gemälden zurück. Auf dem linken war eine meisterliche Darstellung eines Flusses in schwindendem Tageslicht zu sehen, mit Wolken, die sich am Himmel auftürmten, mit Menschen vor einer alten Mühle. Das Licht leuchtete geradezu. Man fühlte sich, als würde man auf die naturgetreue Nachempfindung eines Nachmittags in Suffolk schauen. Constable. Die Königliche Akademie verachtete ihn, aber John hatte ihn schon immer für ein Genie gehalten. Er beugte sich vor. Das Gemälde trug den Namen »Flatford Mill« oder so ähnlich.
Das Gemälde zur Rechten zeigte ein Inferno von Wind und Licht über einer tobenden See. Das dargestellte Schiff brach vor den Augen des Betrachters entzwei. Man konnte die Kraft der Wellen spüren, während der Wind die Wogen zu Gischt zerriss, die Angst der Menschen, die ins Wasser geschleudert wurden. Die Farbe war nicht wie bei Constable in durchscheinender Perfektion verwendet, sondern in großen, dramatischen Klecksen dick aufgetragen worden. John musste nicht auf die Namenstafel schauen, um den Namen des Malers zu erraten. Es war ein Turner. Aber der Titel des Bildes hielt seinen Blick gefangen. Das Wrack eines Schiffes, 1810. Er hoffte bei Gott, dass die Szene nicht prophetisch zu verstehen war.
»Sehen Sie?«, sagte die Gräfin triumphierend. »Es ist das Gleiche bei der Malerei.«
John stand da wie festgenagelt. Schließlich räusperte er sich und fühlte sich genötigt, das Schweigen zu beenden. »Constable ist Pope und Wordsworth, aber Turner ist natürlich Blake.« Er suchte nach etwas, das er noch sagen konnte. »Wenn man natürlich Constables Skizzen gesehen hat – sie haben genau dieselbe Kraft.«
»Sie kennen ihn?« Die Gräfin bedachte John mit einem anerkennenden Blick. Dann wandte sie sich wieder dem Gemälde zu. »Doch er fühlt den Drang, sich zu verbessern, auf eine Art, die Turner hinter sich zu lassen beginnt. Turner ist dabei zu lernen, zum Wesen des Lichts durchzudringen.«
John räusperte sich wieder. »Könnte man nicht sagen, dass es sich mit der Musik ebenso verhält? Die Präzision der Gegensätze bei Haydn gegen die Leidenschaft Beethovens.«
Die Gräfin starrte ihn an. »Eine Leidenschaft, die so verzehrend ist, dass sie die Taubheit überstand. Er muss daran geglaubt haben, dass die Leidenschaft triumphieren wird … Sein Hunger, Musik zu schaffen, gab seinem Leben Sinn.«
»Hunger«, murmelte John. Wollte er das Leben, das er gewählt hatte? Wollte er irgendetwas? »Sie haben mir noch nicht gesagt, wer Ihr
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