Der Ruf des Abendvogels Roman
sich nur vor, wie Michael oder Maureen sich gefühlt hätten, wenn Sie umgekommen wären!«
»Nicht elender als ich. Was, wenn die Kinder mir eines Tages Vorwürfe machen?«
»Das werden sie nicht tun!«
»Ich werde nie vergessen, wie Michael mich angeschaut hat, als das Rettungsboot heruntergelassen wurde – niemals.« Ihre schönen Augen füllten sich mit Tränen. »Er beschwor mich, auf die Kinder Acht zu geben, falls ihm irgendetwas zustoßen sollte. Egal was geschieht – ich halte mein Versprechen.« Voller Zuneigung betrachtete sie die schlafenden Kinder, die rührend unschuldig wirkten. »Das ist übrigens kein Opfer für mich – ich habe Jack und Hannah wirklich gern.« Sie sah Ethan an. »Bin ich eine so schlechte Mutter, dass Sie es gleich gemerkt haben?«
»Sie sind in einer außergewöhnlichen und sehr schwierigen Lage. Geben Sie sich etwas Zeit!«
Tara verstand nicht, warum sich seine Haltung ihr gegenüber plötzlich so gewandelt hatte. Er hätte ihr zustimmen können, dass sie ihre Sache nicht gut machte, doch er schien tatsächlich mitfühlend zu sein.
»Das ist wirklich die schwierigste Situation, in der ich jemals gewesen bin«, meinte sie. Ethan nickte schweigend und verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass sehr viel schwierigere Probleme noch vor ihr lagen.
»Ich möchte Jack und Hannah eine richtige Mutter werden«, hörte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen sagen.
»Alle Eltern machen Fehler, Tara. Seien Sie nicht zu hart zu sich selbst!«
Tara seufzte. »Ich gebe es nicht gern zu, aber ich beneide Sie um Ihre natürliche Art Jack gegenüber.«
Ethan lächelte. »Ich war zwar ein Einzelkind, aber ich hatte viele jüngere Cousins und war oft bei ihnen zu Hause. Haben Sie keine Geschwister?«
»Ich habe noch Brüder, aber wir sind fast ausschließlich von Kindermädchen erzogen worden.«
»Dann stammen Sie also aus wohlhabenden Verhältnissen.«
Tara verzichtete auf eine Antwort. Nach kurzem, leicht unbehaglichem Schweigen sagte sie: »Ich danke Ihnen, dass Sie sich so viel Zeit für Jack nehmen. Er hat sich sehr zurückgezogen.«
»Das ist unter diesen Umständen völlig normal.«
Tara spürte, dass er noch immer glaubte, Jack habe die Reifen des Buggys zerschnitten, doch sie selbst hielt nach wie vor Saladin für den Schuldigen. Die Zeit würde ihr Recht geben, davon war sie überzeugt.
»Jack scheint die Kamele wirklich zu mögen.« Tara war sich nicht bewusst, wie verwundert ihre Worte geklungen hatten, bis sie sah, dass Ethan amüsiert lächelte. »Fast so sehr, wie Sie sie verabscheuen«, sagte er und bemühte sich sichtlich, ernst zu bleiben.
Halb lächelnd räumte Tara ein: »Eigentlich sind sie gar nicht so übel.«
Ethan zog die Augenbrauen hoch, und Tara fügte hastig hinzu: »Ich finde immer noch, dass sie stinken.« Sie roch an ihren Sachen und rümpfte die Nase. »Und sie geben schreckliche Geräusche von sich – aber ich glaube, ich kann mich an sie gewöhnen.«
»Das ist doch schon ein Fortschritt.« Ethans Miene erhellte sich sichtlich. Dann starrte er in die Glut des niedergebrannten Feuers, in dem das Holz knackend zerfiel, und versank in Gedanken.
Der nächste Tag verlief wie der vorangegangene. Ethan erklärte ihnen, sie würden auf eine hohe Felskante zureiten, die meilenweit entfernt eben noch zu erkennen war. Die rote Wüste nahm kein Ende, und unendlich schien auch die Zahl der Fliegen, die sie umschwirrten und von denen einige schmerzhaft bissen.
»Hat es im See jemals Wasser gegeben?«, wollte Tara wissen, die von einer riesigen kühlen Wasserfläche träumte.
Ethan wandte sich im Sattel um. »Der Lake Eyre?« Er wirkte erstaunt.
»Ja. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe mir eigens einen Badeanzug gekauft in der Hoffnung, vielleicht endlich einmal schwimmen zu lernen.«
Lachend erwiderte Ethan: »Wenn Sie genügend Geduld aufbringen, könnten Sie vielleicht Glück haben. Aber seit der europäischen Besiedlung ist er nur ein einziges Mal voll gewesen, als es in Queensland heftige Überschwemmungen gab und das Wasser durch den Warburton-Fluss und den Cooper Creek in den Lake Eyre abgeflossen ist. Ich habe gehört, dass es Wochen dauerte, bis er voll war, und dass es für die paar Bewohner der Gegend sehr aufregend war.« Er schwieg einen Moment, um dann fortzufahren: »Ich war damals nicht hier, aber einige von den alten Goldschürfern erzählen noch davon. Anscheinend hat sich damals sehr schnell eine bemerkenswerte Tierwelt dort
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