Der Ruf des Abendvogels Roman
herumgezogen.«
»Wie hat Ihr Mann sein Geld verdient?«
Tara dachte an Garvie, den Musiker und Gelegenheitsdieb. Er hatte auf Farmen, Fischerbooten und Pferdemärkten gearbeitet, und es hatte wenig gegeben, was er nicht ausprobiert hätte, doch er war niemals bei irgendetwas geblieben. Sogar seine Malerei hatte unter seinen häufigen Gefängnisaufenthalten gelitten. Der richtige Vater der Kinder war ein solider Mann gewesen, ein Handwerker.
»Michael war Kutschenbauer. Er hat bei der Islingtoner Eisenbahngesellschaft gearbeitet. Hat Jack Ihnen erzählt, dass das Schiff direkt vor der Küste gesunken ist?«
»Ja.«
Tara fragte sich, was Jack noch alles erzählt haben mochte.
»Das muss schrecklich gewesen sein. Ist es auf ein Riff gelaufen?«
»Nein, es gab einen Sturm, und dann ist ein Feuer ausgebrochen ...« Tara spürte, wie die Erinnerungen sie zu überwältigen drohten. Sie wollte nicht über den Untergang des Schiffes reden. Das war nicht nur schmerzhaft, sondern sie fürchtete auch, Ethan könnte die Wahrheit über die Kinder erraten.
»Sie schichten Feuer auf wie ein Viehtreiber«, sagte er plötzlich.
Tara spürte, wie sie errötete.
»Und Sie kochen Billy-Tee, als hätten Sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Aber das scheint mir sehr unwahrscheinlich, unddeshalb habe ich gefragt, wo Sie gewohnt haben. Ich denke, Sie hatten ein Heim, aber Sie sitzen so selbstverständlich an diesem Lagerfeuer wie eine ... Zigeunerin.«
Tara starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Für einen Moment war sie sprachlos. Doch schließlich fasste sie sich und erklärte: »Ich habe mir von den Zigeunern etwas abgeschaut. Sie ... sie lagerten oft auf dem Land meines Vaters, und ich fand ihre Gewohnheiten ... faszinierend.« Sie hoffte, ihre etwas fadenscheinige Erklärung werde ihn zufrieden stellen.
Er bemerkte ihr Erröten und ahnte, dass sie log – doch die Kinder waren eindeutig bürgerlicher Herkunft, und in ihren Adern floss kein Zigeunerblut.
Seine nächsten Worte schockierten Tara noch mehr. »Sie sind nicht die richtige Mutter dieser Kinder, oder?« Ihm war aufgefallen, dass es kein wirklich enges Band zwischen Tara und den beiden gab. Sie hatte sie gern und fühlte den Drang, sie zu beschützen, doch Hannah und Jack reagierten anders darauf, als wenn sie ihre eigenen Kinder gewesen wären. Er hatte noch nie gehört, dass Jack sie ›Mutter‹ genannt hätte, Hannah dagegen hatte schon öfter in ihrer Gegenwart nach ihrer Mutter geweint. Außerdem hatte Ethan an Taras Ringfinger einen weißen Streifen bemerkt, wo sie einen Ehering getragen haben musste. Wenn ihr Mann eben erst gestorben war, hätte sie den Ring sicher nicht schon so bald abgenommen.
Tara wusste nicht, wie sie ihm antworten sollte, und starrte stumm vor sich hin.
»Sind die Eltern bei dem Schiffsunglück ertrunken?«
Sie konnte nicht anders, als es zuzugeben. Ethan war ein aufmerksamer Beobachter, und es hatte keinen Sinn, ihn zu belügen. Außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bevor Jack sich verriet. »Ja, das sind sie.«
Ethan nickte stumm, ohne ihr Vorwürfe zu machen. Tara war zutiefst erleichtert.
Ethan musste sich eingestehen, dass er sich in Tara geirrt hatte.Nur ein selbstloser Mensch würde die Verantwortung für die Kinder eines anderen übernehmen. Und doch hatte er das Gefühl, dass das nicht ihre ganze Geschichte war.
»Im Rettungsboot war kein Platz mehr für sie«, begann Tara fast flüsternd wieder zu sprechen, und diese wenigen Worte ließen alles wieder lebendig werden. Sie blickte hinaus in die Dunkelheit, während ihre Gedanken zu der schicksalhaften Nacht zurückgingen. Die sie umgebende Schwärze erinnerte sie an die kalte, dunkle See, und sie schlang schaudernd die Arme um ihren Körper. »Maureen und ich haben uns eine Kabine geteilt. Sie war so fröhlich ...« Tara kämpfte mit den Tränen. »Als das Schiff zu sinken begann, hat Michael die Kinder zu mir ins Boot gesetzt, für den Fall, dass in den anderen Rettungsbooten nicht genug Platz sein würde. An Deck herrschte ein furchtbares Durcheinander, alle drängten und schoben ... Maureen hätte noch mit uns kommen können, aber sie wollte ihren Mann nicht allein lassen. Ich habe Michael meinen Platz angeboten, aber er mochte nichts davon hören ... Ich hätte ihn überreden müssen!«
»Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, Tara«, sagte Ethan überraschend verständnisvoll. »Die Situation war sicher für alle schrecklich – stellen Sie
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