Der Ruf des Abendvogels Roman
ihr erlaubte, sie selbst zu sein, jemanden, bei dem sie sich sicher und beschützt fühlen konnte. Obwohl Garvie viel guten Willen besessen hatte, war er unfähig gewesen, ihr diese Dinge zu geben.
Während Ethan und Jack die Kamele für die Nacht in den umzäunten Hof führten, wusch Tara das Geschirr ab und räumte ein wenig auf. Sie war Ethan sehr dankbar dafür, dass er sich so um den Jungen kümmerte. Wenn er wieder losritt, würde sie selbst lernen müssen, mit Jack umzugehen, und sie ahnte, dass das nicht leicht werden würde.
Bevor sie sich schlafen legte, zog es Tara noch einmal zu der Felskante, um für diesen Tag einen letzten Blick auf Tambora zu werfen. Es war schon spät, und das Haus lag in tiefer Dunkelheit. Der Vollmond warf sein blasses Licht über die Landschaft und ließ die Eukalyptusbäume, die das Haus umgaben, wie überirdische Schemen wirken, die über das Anwesen wachten.
Dessen weiße Mauern schimmerten im Glanz des Mondes, und die Säulenbögen der Veranden warfen düstere Schatten auf dem hellen Boden. Wieder staunte Tara über die Pracht des Hauses, doch im Mondlicht schien es von einer Aura umgeben, die ihm etwas Geheimnisvolles verlieh. Tara konnte noch immer nicht glauben, dass ihre Tante in diesem eindrucksvollen Haus wohnte, umgeben von staubtrockener Wüstenlandschaft. Ihr Elternhaus, immerhin ein Herrensitz auf dem Land, war dagegen bescheiden gewesen.
Die Aussicht, ihre Tante zum ersten Mal seit sieben Jahren wiederzusehen, erfüllte Tara mit großer Vorfreude, wenn auch gemischt mit ein wenig Sorge. Sie hoffte, dass Victoria ebenso froh sein würde, sie zu sehen, doch sie wollte ihr keine Last sein, vor allem, weil sie auch noch die Kinder mitbrachte.
Tara ging zum Feuer zurück und goss sich einen Becher Tee ein. Gleich darauf kam auch Ethan. »Jack ist auch endlich schlafen gegangen«, sagte er. »Er war so müde, dass er beinahe im Stehen eingeschlafen wäre, aber er hat darauf bestanden, mir zu helfen.«
»Er ist gern mit Ihnen zusammen«, erwiderte Tara und reichte ihm einen Becher Tee.
»Ich glaube, er mag vor allem die Kamele. Es gibt nicht viele Menschen, die diese Tiere so gern haben.«
Tara sah die Freude auf seinen Zügen und bemerkte das leichte Lächeln um seinen Mund. Sie schwieg einen Augenblick, während Ethan sie aufmerksam beobachtete.
»Wie sieht der Alltag auf einer Farm eigentlich aus?«, fragte sie dann unvermittelt.
»Ein immerwährender, anstrengender Kampf, nichts als harte Arbeit, tagein, tagaus, über viele lange Jahre. Es kann auch sehr lohnend sein. Manchmal gibt es sehr ertragreiche Zeiten, aber oft dauern die Trockenperioden ewig, und die guten Zeiten sind selten und kurz.«
Tara schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, wie ihre Tante damit fertig wurde. »Ich werde natürlich helfen, wo ich kann – aber meine Tante hat doch sicher auch Angestellte, nicht wahr? Sie erwähnten einen Verwalter ...«
Ethan nahm ihre Frage als Bestätigung dafür, dass er Recht gehabt hatte. Tara glaubte offensichtlich, mit einem so großartigen Haus verbinde sich ein ebenso großartiger Lebensstil – und genau deshalb hatte er ihr nichts über Tambora erzählt, bevor sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. »Früher gab es sehr viele Angestellte, besonders als Tom noch lebte«, erwiderte er. »Aber die letztenJahre waren hart, und jetzt sind nur noch wenige geblieben. Es gibt etwas, das Sie über Ihre Tante wissen sollten, Tara: Sie war immer eine sehr tatkräftige Frau und hat sich nie nur als Vorgesetzte gefühlt, die die Anweisungen gab. Sie war immer draußen und hat selbst mit Hand angelegt, soweit es ging. Jetzt scheint Tadd Sweeney die Dinge für sie zu regeln, doch Victoria würde sich nirgendwo anders wohl fühlen als in Tambora.«
»Bringt die Farm ihr denn überhaupt Gewinn ein?«, fragte Tara plötzlich.
Ethan schien ihre Direktheit ein wenig zu befremden, und sie erklärte leicht verlegen: »Ich weiß, dass das eine sehr indiskrete Frage ist. Ich möchte nur wissen, ob meine Tante in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Die Wirtschaftskrise trifft jeden, und ich habe lange gezögert, bevor ich hergekommen bin, weil ich befürchtete, ihr zur Last zu fallen.«
Ethan erkannte, dass ihre Sorge echt war. Ruhig gab er zurück: »Das weiß ich wirklich nicht. Seit Victorias Augen schlechter geworden sind, führt Tadd Sweeney die Bücher, und da sie niemals irgendwelche Anzeichen von Besorgnis erkennen lässt, scheint er ihr nur gute
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