Der Ruf des Abendvogels Roman
zur See gegangen; Daniel hat eine Engländerin geheiratet und lebt in Cornwall. Ich glaube, er arbeitet ... in einer Zinnmine.« Ein kummervoller Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Beide hatten sie das Gefühl, mich im Stich zu lassen, aber ich wollte nicht, dass sie noch länger unter Ninians fortwährender Melancholie litten.«
Riordan starrte auf seine Teetasse – er verstand all das nur zu gut. Ob Tara sich wohl darüber im Klaren war, wie sehr ihre Familie wegen ihres impulsiven Handelns gelitten hatte?
»Ninian ist einen langen und langsamen Tod gestorben – er litt an gebrochenem Herzen«, fuhr Elsa fort. »Er hat nie einsehen wollen, dass Taras Flucht seine Schuld war.«
Riordan hob ruckartig den Kopf und runzelte die Stirn. »Seine Schuld?«
Elsas Züge wirkten schmerzverzerrt. »Er hat sich große Vorwürfe gemacht.« Als sie sah, wie verblüfft Riordan war, blickte sie unbehaglich zu Boden. »Wissen Sie, Ninian und Tara waren einander immer sehr nahe, viel näher als sie und ich. Sie war das Kind ihres Vaters ...«
Riordan fühlte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. »Aber warum hätte er sich die Schuld daran geben sollen, dass sie fortgelaufen ist? Was hatte er damit zu tun?«
Elsa blickte in ihre Tasse, als suche sie die Antwort in den Teeblättern. Sie nahm an, dass Riordan aufgebauschte Sensationsgeschichten und Halbwahrheiten gehört hatte. »Am Abend ihres achtzehnten Geburtstages ist Tara etwas sehr Schlimmes geschehen. Es ist sehr schwer, darüber zu sprechen ...« Sie schaute sich in dem stillen Teesalon mit dem schlichten Tischschmuck aus blau-weißen Tischdecken um. Ihr Blick wanderte über das alte Besteck mit den vergilbten elfenbeinernen Griffen, und allmählich beruhigte sie sich wieder.
Riordans Gedanken überschlugen sich. Er ahnte, was sie als Nächstes sagen würde, doch er verstand nicht, warum. Vor Jahren hatten sie Taras Geschichte nicht geglaubt – was mochte sich inzwischen geändert haben?
»Unser damaliger Verwalter ... hat Tara an jenem Abend ... überfallen. Niemand kannte die Wahrheit, außer unsere Tochter – und ich schäme mich, es zu sagen, aber wir haben ihr nicht geglaubt.«
Riordan sah, dass in Elsas Augen Tränen schimmerten, und fühlte sich unglaublich elend.
»Ich dachte, sie wolle dadurch nur eine Liebesaffäre mit einem Zigeuner vertuschen. Ihr Vater glaubte ihr kein Wort, weil sie in einer kompromittierenden Situation mit einem sehr ... unstandesgemäßen Mann angetroffen wurde. Ich könnte jetzt alles auf den Schock schieben, den wir erlitten haben, aber in Wirklichkeit gibt es dafür keine Entschuldigung.«
»Aber es kann Ihnen doch niemand übel nehmen, dass Sie ihre Geschichte anzweifelten«, meinte Riordan im Brustton der Überzeugung. Als er Elsas Stirnrunzeln sah, fügte er hastig hinzu: »Ich meine, sicher haben Sie diesem Angestellten vertraut ...«
Elsa senkte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, war Ninian gerade im Begriff, ihn wegen Trunkenheit zu entlassen. Das machtunseren Fehler noch unverzeihlicher. Es ist tragisch, dass Tara fortlief, bevor Ninian herausfand, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Wir hätten unserer Tochter vertrauen müssen, Riordan! Ninians Seelennot wurde aus dem Wissen gespeist, dass Tara nicht wegen des gemeinen Überfalls oder wegen der Schande fortgegangen ist, sondern weil sie sich von ihm verraten fühlte. Er hatte das Wort eines Angestellten über ihres gestellt, und das konnte er sich niemals verzeihen. Ich selbst schäme mich zu sagen, dass mein erster Gedanke ihrem guten Ruf galt – und damit auch unserem.«
Riordan fühlte, wie ein eiserner Ring sich um sein Herz zu legen schien. Elsa hatte Recht – das war der Grund, warum Tara fortgelaufen war: Ihr Vater hatte das enge Band zwischen ihnen zerrissen. Und er selbst hatte ihr auch nicht geglaubt!
»Wie hat er ... die Wahrheit herausgefunden?«
»Dieser Mann, Stanton Jackson, ist von einem der Zigeuner umgebracht worden. Die Polizei hat herausgefunden, wer dieser Zigeuner war, und ihn jahrelang gesucht. Durch Zufall stellten sie fest, dass er Anfang des Jahres wegen einer anderen Geschichte im Gefängnis war, und nun werden sie ihn wohl aufhängen.«
Riordan stieß erschrocken den Atem aus. Von dem Mord hatte er nichts gewusst – doch sicher war der Täter nicht Taras Mann gewesen!
Elsa fuhr fort: »Wir nahmen an, dass Stanton den Verletzungen erlegen war, die man ihm mit einer Forke an Kopf und Körper beigebracht hatte. Doch im
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