Der Ruf des Abendvogels Roman
wollte. Obwohl sie sehr zerbrechlich aussah, hatte Riordan den Eindruck, dass das Gespräch mit ihr sehr offen und interessant werden würde.
»In Ihrem Brief sprachen Sie von Ihrem Wunsch, einige Kunstwerke zu verkaufen?«, fragte er behutsam.
Elsa seufzte. »Ja – ich fürchte, das wird nicht zu umgehen sein. Bitte verzeihen Sie meine Heimlichtuerei, aber ich wollte nicht durch einen Besuch in der Galerie den vielen Gerüchten neue Nahrung geben. Wir haben lange genug darunter gelitten, und es gibt sogar jetzt Spekulationen über Ninians plötzlichen Tod.«
»Ich verstehe«, murmelte Riordan wie in einem Reflex, doch in Wirklichkeit verstand er nicht das Geringste. Er nahm an, dass es immer noch wegen Tara Gerede gegeben hatte, doch er konnte sich nicht vorstellen, warum es um Ninians Tod Gerüchte geben sollte.
»Ich weiß, dass dieses Hotel ein wenig abgelegen ist und ...«, sie blickte sich um, »... auch ein bisschen heruntergekommen. Aber man bekommt nachmittags anständigen Tee und Gebäck. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, mich hier zu treffen?«
Riordan wurde immer neugieriger. Elsa wirkte höchst verlegen, weil sie ihm gegenüber angedeutet hatte, auf ihr Geld achten zu müssen. Konnte es wirklich so schlecht stehen, dass sie Gemälde verkaufen und billige Hotels suchen musste, um dort den Tee einzunehmen? »Absolut nicht, Mrs. Killain«, antwortete er.
»Bitte, nennen Sie mich doch Elsa – wenn ich Sie auch bei ihrem Vornamen nennen darf – es war Riordan, nicht wahr?«
»Ja – selbstverständlich.« Riordan bestellte für sie beide einen Devonshire-Tee.
Sie sprachen über verschiedene Bilder, die Elsa besaß, und offensichtlich war sie unentschlossen, welche davon sie verkaufen sollte. Alles wäre einfacher gewesen, wenn die Gemälde als Geldanlage erworben worden wären, doch das war nicht so. Ninian war ein echter Kunstliebhaber gewesen, und Riordan hatte den Eindruck, als fürchte Elsa, ein Sakrileg zu begehen, wenn sie die Werke jetzt aus der Hand gab. Deshalb versuchte Riordan ihr die Entscheidung so einfach wie möglich zu machen. Er erklärte ihr sanft, welche der Bilder einen guten Preis erzielen würden. Leider handelte es sich dabei um ihre bestgehüteten Schätze, die Ninian überall in Europa erstanden hatte.
Elsa nahm sich zusammen, denn sie wusste, was getan werden musste. Sie wünschte einen schnellen und möglichst diskreten Verkauf, bei dem die Bilder am besten nach Übersee gehen sollten, um weiteres Gerede zu vermeiden. Riordan wandte ein, dass wahrscheinlich nur die europäischen Adligen sich die Gemälde würden leisten können, und schlug eine Versteigerung bei Nickleby’s, Sotherby’s oder sogar Wolf’s vor.
»Ich glaube, ich muss Ihnen meine unglücklich Lage erklären, Riordan«, meinte Elsa unsicher.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte er. »Sie haben soeben Ihren Mann verloren ...«
»Ich habe ihn schon vor Jahren verloren«, gab Elsa trocken zurück.
Ein seltsames Schweigen folgte, denn Riordan verstand zwar ihre Bemerkung nicht, wollte sie aber auch nicht drängen, ihn über die Hintergründe aufzuklären.
»Vor elf Jahren haben wir unsere einzige Tochter zum letzten Mal gesehen«, fuhr sie schließlich fort.
»Tara ...«, murmelte Riordan versonnen.
Es überraschte Elsa Killain offensichtlich nicht mehr, dass alle Welt über die Schande ihrer Familie informiert war. »Richtig«, sagte sie nur. »Und ich denke, damals schon haben wir auch Ninian verloren. Sie haben sicher irgendwelche Gerüchte gehört,aber damit Sie es genau wissen: Sie ist mit einer Gruppe von ... Zigeunern fortgelaufen.« Man sah ihr an, dass es ihr fast das Herz zerriss, diese Worte auszusprechen. Riordan blieb weiter still. Es wäre nicht richtig gewesen, Elsa von der seltsamen Geschichte zu berichten, die Tara ihm erzählt hatte, oder von Taras Bitterkeit ihren Eltern gegenüber, die ihrer eigenen Tochter nicht geglaubt hatten, von einem Farmangestellten vergewaltigt worden zu sein.
»Ninian hat unseren Freunden gesagt, die Zigeuner hätten sie geraubt – er konnte sich die Schande nicht eingestehen. Nein, wenn ich ehrlich bin, er hätte es schon gekonnt. Aber er wusste, dass ich es nicht ertragen hätte. Von diesem Zeitpunkt an hat er keinerlei Interesse mehr an unserem Besitz und unseren Tieren gehabt. Die Jungen haben sich sehr bemüht, aber sie waren zu unerfahren, und keiner von ihnen hat Ninians Geschäftssinn geerbt. Nach einigen Jahren der Unentschlossenheit ist Liam
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