Der Ruf des Abendvogels Roman
gesagt, dass die Dinge so schlecht standen, und er hatte auch kein Recht, den Männern zu sagen, dass Victoria verkaufen würde.
»Ich glaube nicht, dass sie das tun wird, Charlie. Meine Tante liebt Tambora. Jedenfalls ist es sehr ehrenhaft von euch, hier zu bleiben und zu arbeiten, obwohl ihr kein Geld bekommt.« Tara bewunderte die Loyalität der Männer, besonders Nuggets Treue. Sie sah ihn an, und er hob die breiten Schultern.
»Wir haben Arbeit, einen Platz zum Schlafen und unser Essen. Missus Victoria ist ein guter Boss«, sagte er schlicht.
»Trotzdem glaube ich nicht, dass viele Angestellte unter solchen Bedingungen bleiben würden«, meinte Tara. Sie fühlte sich schrecklich bei dem Gedanken, dass Victoria vermutlich von all dem überhaupt nichts ahnte. Es musste etwas geschehen!
»Ich bin schon lange hier, Missus«, sagte Nugget. »Dieses Land meine Heimat. Aber vielleicht Tadd schickt mich irgendwann fort.«
Tara fragte sich, ob Tadd Sweeney Nugget wohl gedroht hatte, doch sie wollte ihn nicht direkt danach fragen.
Nugget legte zwei riesige Koteletts für sie auf einen Teller und schien zu vermuten, sie würde sie mitnehmen. Freudig überrascht sah er zu, wie sie sich auf ein umgestülptes Ölfass setzte, um mit den Männern zu essen. »Meine Tante wird sich fragen, wo ich bin«, sagte sie und leckte sich voller Vorfreude die Lippen.
»Sie müssen nicht bleiben, Missus«, meinte Nugget verlegen. »Sie essen vielleicht lieber bequem ...«
»Natürlich bleibe ich, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich sitze bequem genug!«
Er lächelte, wobei er die Lücke in seinem Mund sehen ließ, wo die Vorderzähne hätten sein sollen. Das Leuchten seiner Augen war sogar im schwindenden Licht noch gut zu erkennen. »Ich hole Ihnen einen Stuhl aus der Hütte, Missus.«
»Danke, so geht es sehr gut, Nugget.«
»Gleich hören Sie diesen scheußlichen Dinnergong«, meinte Charlie, und sie lachte herzlich.
Tara fühlte sich wohler, als Nugget und die anderen Männer jemals würden ahnen können. In dem stilvollen Esszimmer ihrer Tante war ihr angesichts der Kandelaber und des Silberbestecks sehr unbehaglich zumute gewesen. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie sich wieder daran gewöhnte, in so feierlichem Rahmen zu essen.
Nugget zauberte etwas Damperbrot aus einem Topf mit Deckel hervor und brach es auseinander. Dann warf er eine Hand voll Mehl in die Pfanne, gab etwas Wasser dazu und rührte alles zu einer Soße. Die Männer nahmen sich je ein Stück von dem dampfenden Damper und bissen hinein. Sie aßen das Fleisch mit den Händen, gaben Tara jedoch ein Besteck. Sie sah, dass sie dasFleisch mit Salz bestreuten und die Soße mit dem Brot aufwischten. Es war eine einfache Mahlzeit, doch sie genoss sie sehr. Das Fleisch schmeckte etwas streng, aber trotzdem gut. Später sammelte sie die übrig gebliebenen Knochen, die Knorpel und das Fett ein und brachte alles den Hunden, die es gierig verschlangen und nach mehr Ausschau hielten. Tara fragte sich, ob sie wohl auch Sanja um Fleischreste bitten konnte.
Als sie mit dem Teller zu den Männern zurückkam, erkundigte sie sich, wer den Gemüsegarten pflegte. Nugget zuckte unbestimmt mit den Schultern, doch Bluey antwortete: »Keine Zeit, Missus. Vor ein paar Jahren anders. Der Boss hat vielen Männern Arbeit gegeben, und hier viele Mädchen, um der Missus zu helfen. Jetzt alle fort.«
»Ich dachte, Sanja kümmert sich vielleicht um den Garten – er braucht die Pflanzen schließlich für seine Küche.«
Die Männer lachten. »Wagen Sie es bloß nicht, ihm das zu sagen, Missus!«, warnte Nugget.
»Meine Tante erzählte mir, dass Sanja Chili-Büsche angepflanzt hat. Wo stehen die?«, wollte Tara weiter wissen.
»Missus hat schlechte Augen – sie nicht sehen, keine Chili-Büsche mehr.« Bluey und Charlie wechselten einen schadenfrohen Blick. Sie wollten Tara nicht sagen, dass sie auf Sanjas Chili-Büsche uriniert hatten, bis er sie einmal dabei erwischte. Es hatte einen furchtbaren Skandal gegeben, und danach hatte Sanja die Büsche vertrocknen lassen.
Der Gong ertönte und rief zum Dinner. Sein lautes Dröhnen ließ die Kakadus in den Eukalyptusbäumen erschreckt aufflattern.
»Ich gehe wohl besser und sage meiner Tante, dass ich schon gegessen habe«, meinte Tara und reichte Nugget den leeren Teller.
Er gab ihr einen anderen aus Zinn, auf dem mehrere Koteletts lagen. »Für die Kleinen«, sagte er. »Bringen Sie sie ruhig jederzeit mit,
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