Der Ruf des Abendvogels Roman
und hat mir eine Nachricht geschickt, dass Tom noch am Leben war. Damals habe ich vor Sorge fast den Verstand verloren.«
Tara hatte ihrer Tante mit wachsendem Erstaunen zugehört. Sie selbst hatte immerhin gewusst, wo – das heißt in welchem Gefängnis – Garvie sich gerade befand, wenn er nicht bei ihr gewesen war. Sie hatte sich nie Gedanken darüber machen müssen, ob er noch lebte oder ob ihm etwas zugestoßen war.
»Ich war Ethan so dankbar«, fuhr Victoria fort. »Im Lauf der Jahre hat er so viel für uns getan ...«
Tara war zutiefst erstaunt über die Bewunderung ihrer Tante für Ethan Hunter, die nicht nur allein mit der Dankbarkeit für das zu erklären war, was Ethan für Victoria getan hatte.
»Tante Victoria, Ethan ist so ... unzivilisiert, sogar nach den Maßstäben der Zigeuner! Er wirkt wie ein ungehobelter Einsiedler, kein Vergleich zu dem Bild, das ich mir von Tom mache!« Sie stellte sich Tom wie einen echten Gentleman vor, wie ihren Vater.
»Du hast schon Recht. Tom war Ethan in nichts ähnlich«, meinte Victoria versonnen. »Sie waren nicht nur im Aussehen völlig verschieden, sondern auch sonst in fast allem. Tom war immer sanft und bestand selbst bei dieser Hitze darauf, sich zum Essen umzuziehen. Er liebte sein Land und die Tiere, konnte aber selbst keines umbringen, Gott segne ihn – nicht einmal eine Schlange. Ich habe Tom sehr geliebt und hätte ihn um nichts in der Welt anders haben wollen – aber er hatte nichts Aufregendes an sich, so wie Ethan. Ethan besitzt eine sehr ... männlicheAusstrahlung, wenn du verstehst, was ich meine. Vielleicht ist er rau, aber diese breiten Schultern und der kräftige Brustkorb und seine muskulösen Oberschenkel ...«
Ungläubig stieß Tara hervor: »Du versuchst mir doch nicht etwa zu sagen, dass Ethan so etwas wie ... Sex-Appeal besitzt?«
Victorias Augen leuchteten im Mondlicht. »Genau das. Erzähl mir nicht, dass du es nicht spürst!«
»Ganz sicher nicht«, stieß Tara empört hervor. »Du klingst ja, als seist du in ihn verliebt!« Ihre Tante klang außerdem genau wie Maddie!
»Ich liebe ihn, ja. Aber nicht so, wie du denkst. Wenn ich allerdings ein paar Jahre jünger wäre, sähe die Sache anders aus.«
»Ich kann nicht glauben, was ich höre, Tante Victoria.«
Ihre Tante lachte ungekränkt. »Wie du siehst, ist doch noch ein bisschen Leben in mir altem Mädchen. Ich habe übrigens Sanja gebeten, seine Gerichte etwas weniger scharf zu würzen, damit du und die Kinder sie auch essen können.«
»Oh, und – war er sehr aufgebracht?«
»Er ist mein Angestellter, Tara, auch wenn du vielleicht den Eindruck gewonnen hast, er hätte uns in der Hand.«
»Ich war nach dem Essen bei ihm, Tante, erinnerst du dich?«
»Oh, natürlich.« Victoria lächelte hintergründig. »Nun, er hat nicht eigentlich zugestimmt, aber ich hoffe, er wird tun, um was ich ihn bitte. Er war vollkommen außer sich, weil ihr nicht zum Abendessen erschienen seid. Und als er dann noch herausfand, dass du und die Kinder Nuggets Hammelkoteletts gegessen habt, ist er fast explodiert. Ich habe ihm erklärt, dass ihr Chili nicht gewöhnt seid und dass ihr die Currygerichte nur essen könnt, wenn er weniger Chili hineintut. Schließlich könnt ihr nicht ewig von diesen grässlichen Hammelkoteletts leben!«
»Den Kindern haben sie gut geschmeckt – und mir auch, wie ich zugeben muss«, gestand Tara. »Mir hat besonders gefallen, mit den Männern am Lagerfeuer zu essen – es war wie in alten Zeiten.« Dieses Mal war sie es, die über die entsetzte Miene ihrerTante lachte. »Auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, sie besser kennen zu lernen«, fügte sie noch hinzu.
»Sie sind gute Männer. Ich habe dir ja schon beim Mittagessen erzählt, wie schwer es ist, treue Angestellte zu finden – und in dieser Hinsicht habe ich wirklich großes Glück.«
Tara konnte ihr nur aus vollem Herzen zustimmen. Sie dachte, dass man sicher selten Männer fand, die so lange ohne Bezahlung arbeiteten, besonders wenn sie von einem Tadd Sweeney ständig angetrieben wurden. Wenn sie Familie gehabt hätten, die auf ihren regelmäßigen Lohn angewiesen waren, wäre das gar nicht möglich gewesen. Dieser Gedanke ließ neue Fragen in Tara aufsteigen. »Sind Bluey und Nugget eigentlich nie verheiratet gewesen?«
»Nugget hatte einmal eine Aborigines-Frau, aber sie ist schon vor vielen Jahren gestorben. Die Sterblichkeitsrate unter den Einheimischen ist leider sehr hoch. Bluey hat mit
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