Der Ruf des Abendvogels Roman
aus vier Flügeln, die wie Arme eines riesigen Seesterns vom Hauptgebäude abgingen. Nachdem Tara sich in der stickigen Empfangshalle in die Besucherliste eingetragen hatte, wurde sie in einen der drei angrenzenden Besuchsräume geführt.
In der Mitte dieses Raumes stand ein Tisch, der von Wand zu Wand reichte. Über die gesamte Länge des Tisches verlief ein Drahtnetz, das Besucher und Häftlinge voneinander trennte.
Auch hier war die Luft abgestanden. Die beige Wandfarbe blätterte ab, und der Zementfußboden war fleckig. Das einzige Tageslicht kam von einem hohen Fenster mit starkem Gitter davor, und Tara nahm an, dass diese Atmosphäre völliger Hoffnungslosigkeit nichts mit dem Wetter zu tun hatte.
Obwohl sie die abstoßenden, überfüllten Zellen noch nie gesehen hatte, war sie sich sicher: Wenn sie auch nur für eine Minute im Mountjoy-Gefängnis eingesperrt gewesen wäre, hätte sie niemals wieder etwas getan, was sie in die Gefahr brachte, dorthin zurückkehren zu müssen.
Garvie erschrak, als er seine Frau auf der anderen Seite des Tisches stehen sah. Einige Augenblicke lang starrten sie sich verlegen an. Tara war zwei Stunden vor der offiziellen Besuchszeit eingetroffen und hatte draußen im Nieselregen warten müssen. Einer der Wärter war im Begriff gewesen, sie in einen Warteraum hineinzulassen. Als er jedoch feststellte, dass sie gekommen war, um den ›Zigeuner‹ zu besuchen, hatte sich seine Haltung sofort geändert. Er war feindselig geworden und hatte ihr gesagt, dass sie nun doch nicht hereinkommen dürfe.
An diese Art von Vorurteil hatte sich Tara niemals gewöhnen können. Es machte sie unendlich wütend, besonders, weil sie absolut nichts daran ändern konnte. Als sie jetzt ihrem Mann gegenüberstand, schämte sie sich plötzlich ihrer vom Regen durchnässten Erscheinung und hatte große Mühe, nicht zu zittern.
»Tara, was tust du denn hier?« Auf Garvies Zügen lag ein leidvoller Ausdruck. »Du bist ja vollkommen durchnässt, Mädchen!«
»Das ist ja eine feine Art, deine Frau zu begrüßen! Ich bin vom Regen überrascht worden«, sagte sie und versuchte, ihre Haare zu glätten, die immer widerspenstig waren, wenn sie feucht wurden. Dann trat sie ein Stück näher an ihn heran und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Ich musste einfach kommen, Garvie. Sei mir bitte nicht böse!«
»Stimmt irgendwas nicht, Mädchen?«
Tara setzte sich auf die dafür vorgesehene harte Holzbank, und Garvie setzte sich ihr gegenüber, während ein Wärter mit grimmiger Miene neben ihnen Wache stand. Ihre Stimmen hallten in der Stille des Raumes wider, und Tara hatte große Hemmungen, in Gegenwart des Wärters zu sprechen, doch Garvie schien es nicht zu stören. Offensichtlich war er an das Leben im Gefängnis und den Mangel an Privatsphäre mittlerweile ausreichend gewöhnt. »Ich sollte dich mit meinen Sorgen nicht belasten, Garvie, ich weiß, du hast selbst genug davon. Aber ich brauche deinen Rat.«
Garvie war viele Jahre älter als Tara, und in der ersten Zeit ihrer Beziehung war er für sie wie ein Mentor, eine Vaterfigur gewesen. Vor allem hatte er niemals an ihren Worten gezweifelt. Seit sie jedoch erwachsen war, hatten die Dinge sich geändert, und nun war es Garvie, der häufig ihren Rat suchte. Doch in diesem Fall brauchte sie seine Hilfe.
»Worum geht es, Mädchen?«
All die vorbereiteten taktvollen Worte schienen mit einem Mal aus ihrem Kopf verschwunden zu sein. »Jake bedrängt mich wegen einer Geldsumme, die du ihm schuldest, wie er sagt«, stieß sie impulsiv hervor. »Ist das wahr? Ich habe ein bisschen Geld, das ich ihm geben könnte ...« Sie hasste zwar den Gedanken, sich davon zu trennen, doch wenn ihr Mann es ihr befahl und es sich nur um eine kleine Summe handelte ...
»Dieser hinterhältige Bastard«, erwiderte Garvie hitzig. »Du gibst ihm keinen Penny!«
»Ich war nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte, und ich verstehe nicht, warum er nicht warten will, bis du entlassen wirst. Du hast ihn doch bisher immer bezahlt!«
Unfähig, dem vertrauensvollen Blick ihrer grünen Augen standzuhalten, senkte Garvie den Kopf und fuhr sich mit seinen kräftigen Händen über den kahl geschorenen Kopf. Es war ein Schock, ihn ohne seine dichten, gelockten Haare zu sehen, die Tara so liebte. Er sah aus wie ein Fremder. Natürlich hatte man ihm im Gefängnis jedes Mal die Haare abrasiert, doch waren sie immer schon wieder nachgewachsen gewesen, bis er zu seiner Frau zurückkehrte.
»Bist du
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