Der Ruf des Abendvogels Roman
okay, Garvie? Es tut mir Leid, dass ich mit meinen Sorgen zu dir komme.«
»Mir geht’s gut, Mädchen. Und diese Sorgen sind nicht deine, sondern meine.« Garvie war froh, dass Tara nichts von den Erniedrigungen wusste, denen er im Gefängnis ausgesetzt war. Niemals durfte sie davon erfahren. Die Rasur der gesamten Körperbehaarung und die Entlausung waren nur der Anfang.Privatsphäre, Selbstvertrauen und Selbstbestimmung gehörten der Vergangenheit an. In dem Augenblick, wenn der Gefangene durch das Gefängnistor schritt, war er für seine Umwelt nichts mehr als nur eine Nummer.
Mountjoy war das schlimmste der Gefängnisse, in denen Garvie bisher eingesessen hatte. Widerliches Essen – jeden Tag Fischabfälle für die Gefangenen, deren Willen die Wärter brechen wollten. Zigeuner galten in der Rangordnung weniger als die Küchenschaben, die ihre überfüllten Zellen bevölkerten. Waschgelegenheiten waren praktisch nicht vorhanden, und während andere Häftlinge einmal wöchentlich baden durften, wurde dies den Zigeunern höchstens einmal im Monat gestattet, wenn sie Glück hatten.
Garvie hatte schon das Gefängnis in Cork schlimm gefunden, doch immerhin hatte er dort zweimal in der Woche baden dürfen. Und als ob sein Leben nicht schon elend genug war, hatte er sich ausgerechnet in Mountjoy dazu hinreißen lassen, einen besonders bösartigen Wärter zu schlagen. Als Strafe musste er die Toiletteneimer von allen Zellen im Block leeren, jeden Morgen während der vergangenen drei Wochen, und es sah nicht so aus, als ob sich daran bald etwas ändern würde. Der Inhalt der Eimer unterschied sich kaum von dem widerlichen Brei, der ihnen als Essen aufgetischt wurde. Garvie war fast dankbar dafür, dass seine graue Häftlingsuniform vor seiner Frau verbarg, wie sehr er in nur wenigen Wochen abgemagert war.
»Behalt das bisschen Geld, das du hast, für dich, Tara«, sagte er. »Ich kann kaum fassen, dass er dich danach gefragt hat!«
Es lag Tara auf der Zunge, ihm von dem Verkauf des Bildes zu erzählen, doch sie zögerte. Irgendetwas verschwieg er ihr doch!
»Ist das alles, was Jake gesagt hat – dass er das Geld wollte?« Garvie runzelte die Stirn. Er befürchtete, Jake könne sein Versprechen gebrochen und ihn hereingelegt haben.
Tara erkannte deutlich, wie besorgt er war, und ihr Misstrauen wuchs. »Also ... ja. Er schlug vor, ich solle tanzen, um das Geld zu besorgen, aber ich habe natürlich abgelehnt!«
»Dieses verdammte Schwein!«
Der Wächter trat näher heran, die Hand auf dem Griff seines Schlagstocks, den stumpfen Blick verächtlich auf Tara und Garvie gerichtet, als seien sie Abschaum.
»Still, Garvie!«, flüsterte Tara besorgt. Sie sah die dunkelblauen Blutergüsse in seinem Gesicht und die Schürfwunden auf seinen Unterarmen, doch sie wusste, dass er niemals zugeben würde, geschlagen zu werden. Das ›Schweigegebot‹ zu brechen, würde ihn das Leben kosten. »Ich werde das Gefühl nicht los, das da noch etwas ist, wovon ich nichts weiß!«
»Wenn er dich anfasst, dann schwöre ich dir, rufe ich alle zusammen, die mir einen Gefallen schulden, und such mir jemanden, der ihn umbringt ...« Garvie wurde blass, als hätte er sich daran erinnert, weshalb er wahrscheinlich niemals wieder als freier Mann würde leben können. Doch dann kehrten seine Gedanken schnell wieder zu Jake zurück, der ihn drei Wochen zuvor besucht und ihm vorgeschlagen hatte, ihm seine Schulden zu erlassen, wenn er dafür Tara bekam.
Garvie war explodiert und hatte Jake gedroht, ihn umzubringen, wenn dieser seine Frau berührte. Sein Wutausbruch hatte ihm eine Woche Einzelhaft eingebracht, ständig von dem Gedanken gepeinigt, was Jake wohl in der Zwischenzeit Tara antun mochte.
Sie fühlte seinen Zorn und wurde immer unruhiger. »Ich gehe heute Nacht fort, Garvie.« Tara wollte ihm nicht sagen, dass sie erwartete, von den Zigeunern weggeschickt zu werden.
Wieder runzelte Garvie die Stirn. »Wohin willst du denn gehen? Wovon wirst du leben?« Das einzig Tröstliche an ihren Worten war die Gewissheit, dass sie dann vor Jake in Sicherheit sein würde, solange dieser nicht wusste, wo er sie finden konnte. Während der ersten Zeit ihrer Ehe hatte Garvies Besorgnis sie immer gerührt, doch mit den Jahren war sie klüger geworden: Seine Sorge um sie war nie groß genug gewesen, ihn von neuen Dummheiten abzuhalten. Sie beschloss, offen zu ihm zu sein.
»Du wirst es nicht glauben, Garvie – aber ich habe das letzte Bild, das du
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