Der Ruf des Abendvogels Roman
Hannah?«, fragte sie, als sie aus dem Bett stieg und feststellte, dass die Kleine nicht neben ihr lag.
»Sie schläft, Missus.«
In ihrem eigenen Bett?«
»Ja, Missus!«
Tara konnte nicht glauben, dass die Kleine die ganze Nacht in ihrem eigenen Bett verbracht hatte. Offenbar hatte ihr der Teddy Sicherheit gegeben.
»Und wo ist meine Tante?«
»Sie unten, Missus, in dem Raum mit der Kiste, die schnattern kann.«
Tara lachte herzlich über Neridas Bezeichnung für das Funkgerät.
In den vergangenen Tagen hatte Victoria viel Zeit damit verbracht, sich endlich wieder einmal über Funk mit den Nachbarn auszutauschen. Außerdem hatte sie ihre Begeisterung für den Tauschhandel entdeckt und Ethan oft mit irgendwelchen Waren zwischen den Farmen hin und her geschickt. Dabei war sie sehr erfolgreich gewesen. Sanjas hausgemachte Chutneys hatte sie gegen Dosenfrüchte und Kondensmilch eingetauscht, die die Kinder so gern mochten. Ein überflüssiges Butterfass hatte ihr drei Säcke Mehl und eine Flasche Pflanzenöl zum Kochen eingebracht. Aber ihr bester Handel war der preisgekrönte Merinoschafbock, der in der Royal-Adelaide-Schau mehrere Schleifen gewonnen hatte und den sie für drei Flaschen Wein und eine alte Esse bekam. »Wir müssen wieder anfangen zu züchten«, sagte sievoller Optimismus zu Tara, »also kommt ein guter neuer Bock gerade recht.«
»Hat Missus Victoria irgendetwas von einem Brief erwähnt, den wir nicht finden können, Nerida?« Obwohl Ethan das Telegramm an William Crombie inzwischen abgeschickt hatte, beschäftigte der verschwundene Brief Tara noch immer. Sie hatte das starke Gefühl, dass sein ›Verlust‹ einen ernsten Hintergrund haben musste. Schon seit ihrer Ankunft in Tambora spürte sie eine untergründige, fast feindselige Spannung, deren Ursprung sie jedoch nicht zu ergründen vermochte – noch nicht.
»Ich nicht gesehen Brief, Missus«, erwiderte Nerida, und Tara glaubte ihr. Ihre riesigen braunen Augen waren so ausdrucksvoll wie ein offenes Buch. »Meinst du, irgendwer könnte ihn ... genommen haben?«, fragte Tara weiter.
Nerida starrte sie verständnislos an.
»Wie zum Beispiel Mr. Sweeney? Könnte er den Brief vielleicht versehentlich ... an sich genommen haben?«
Nerida senkte den Kopf und wurde sichtlich unruhig. »Ich weiß nicht, Missus ...«
»Du magst Tadd nicht so sehr, nicht wahr?«
Das Mädchen wagte nicht aufzublicken.
»Putzt du in seinem Cottage?«
»Ja, Missus.«
Tara hatte plötzlich einen Einfall. Sie legte dem Mädchen lächelnd eine Hand auf die Schulter. »Wenn du jemals jemanden brauchst, um dich auszusprechen, oder einfach nur, um ein wenig zu reden, höre ich dir gern zu – und ich bin die Verschwiegenheit in Person.« Sie legte einen Finger auf ihre Lippen, um zu verdeutlichen, was sie meinte.
Nerida blickte sie scheu an. »Danke, Missus«, sagte sie leise.
Als Tara und Nerida ins Freie traten, arbeiteten die Lubra-Frauen im Garten und unterhielten sich dabei angeregt. Mona trug noch immer das Band im Haar und die Armbänder an denHandgelenken, und die anderen beiden Frauen waren mit den Broschen und Schals geschmückt. Sie trugen ganz genau das Gleiche wie am Tag zuvor, einschließlich der Umhänge, nur dass diese jetzt schmutziger waren. Tara, die wusste, dass Wasser zum Waschen immer knapp war, fand nichts dabei.
»Warum sind sie gestern fortgegangen?«, erkundigte sie sich bei Nerida. »Wir hatten doch erst eine Stunde gearbeitet.
»Als Missus hineinging, dachten sie, Arbeit zu Ende für diesen Tag.«
Tara erinnerte sich, dass sie ihnen zugewunken hatte, und begriff, dass sie das missverstanden haben mussten.
Tara fütterte Mellie und deren Nachwuchs mit den Essensresten des vergangenen Abends und ließ sie dann aus dem Käfig heraus. Sie sah mit Befriedigung, dass die Frauen im Garten gut vorangekommen waren. Sie unterhielten sich lebhaft in der Arabana-Sprache, bis der Frühstücksgong ertönte und sie alle drei lachen mussten. Tara rief Nerida, damit sie ihnen allen etwas zu essen herausbringen sollte, doch als Nerida mit den Frauen sprach, lehnten sie das Angebot ab. Sie erklärten, sie würden im Lager ihres Stammes essen, das gleich hinter den Bäumen lag, und fragten, ob Tara nicht mit ihnen kommen wolle.
Nerida sprach ihr Mut zu, doch obwohl sie sich geehrt fühlte, zögerte sie ein wenig, vor allem weil sie nicht wusste, was man ihr dort zu essen geben würde. Aber schließlich nahm sie die Einladung an.
Als sie, gefolgt von
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