Der Ruf des Abendvogels Roman
jetzt eine andere Bewegung wahr: Ein Tier kam aus der Deckung eines Baumes, hinter dem es versteckt gewesen war. Zuerst dachte Tara, es handle sich um ein kleines Känguru, doch als sie erkannte, was es wirklich war, erschrak sie zutiefst. Victoria pfiff ein weiteres Mal, denn wegen ihres schwachen Augenlichts dachte sie wahrscheinlich, das Tier sei ein Hund. Tara jedoch erkannte darin eines der gefürchtetsten Tiere der Wildnis: einen wilden Eber mit enormen Hauern, die alles aufschlitzen konnten, was das Tier für eine Bedrohung hielt. Tara wollte rufen, doch sie war vor Angst wie gelähmt. Der Eber senkte den Kopf, bereit zum Angriff.
Tara fielen die Gewehre ein, die im Erdgeschoss aufbewahrt wurden. Obwohl sie keine Waffen mochte, hatte Tadd ihr gezeigt, wie man eine der Flinten benutzte, die für den Notfall immer geladen war. Aus Sicherheitsgründen wurde sie jedoch in einem verschlossenen Schrank aufbewahrt. Tara war sicher, dass die Zeit nicht reichen würde, um den Schrank zu öffnen, die Flinte zu ergreifen und hinauszueilen, bevor der Eber angriff.
Die nächsten Augenblicke liefen wie in Zeitlupe ab. Der Eber setzte sich in Bewegung und stürmte auf Victoria und Hannah zu. Tara, deren Herz hart gegen ihre Rippen pochte, öffnete wieder den Mund, um die beiden zu warnen. In diesem Momentdurchbrach ein Schuss die Stille ringsum, Vögel flatterten auf, und der wilde Eber fiel tödlich getroffen zu Boden.
Sekunden später war Ethan an Victorias Seite, ein Gewehr in der Hand.
Tara rannte die Treppen hinunter und ins Freie, vorbei an der verängstigten Nerida, die an der Haustür stand. Als Tara bei ihrer Tante angekommen war, zitterte sie wie Espenlaub, doch Victoria schien ganz ruhig. Offensichtlich war ihr nicht klar, wie knapp sie einer schweren Verletzung oder gar dem Tod entgangen war. Sie hielt die erschrockene Hannah in ihren Armen, die vor Angst laut schluchzte.
»Bist du verletzt, Tante?«, fragte Tara atemlos. »Ist mit Hannah alles in Ordnung?«
»Mir geht es sehr gut«, erwiderte Victoria, unsicher, was all die Aufregung zu bedeuten hatte. »Aber der Schuss hat Hannah Angst gemacht. Warum hast du den Hund erschossen, Ethan? War es ein Dingo? Er hätte uns sicher nichts getan. Sie sind nur neugierig ...«
»Es war weder ein Dingo, Victoria, noch irgendeine andere Art von Hund«, erklärte Ethan sanft »Es war ein wilder Eber, wahrscheinlich derselbe, der Sadies Schweine in Angst und Schrecken versetzt hat. Sie wird froh sein, wenn sie hört, dass wir ihn erwischt haben!« Er schlenderte davon, um den Eber zu untersuchen, den er mit einem einzigen sauberen Kopfschuss erlegt hatte.
»Ich dachte, es sei Shelby oder Fergus«, meinte Victoria. »Wie konnte ich mich nur so irren?« Sie schlug die Hand vor den Mund, als ihr klar wurde, was Hannah oder ihr hätte zustoßen können. »Ich fand es schon seltsam, dass er auf meinen Pfiff nicht herankam. Oh Gott, Hannah hätte ...«
»Es geht ihr gut, Tante Victoria. Aber ihr habt wirklich viel Glück gehabt.« Tara wurde beinahe ohnmächtig, als sie daran dachte, was alles hätte geschehen können. »Wir sollten nichtriskieren, das so etwas noch einmal passiert, das ist dir doch klar? Du musst wegen deiner Augen etwas unternehmen – wahrscheinlich brauchst du nur eine Brille.«
»Ich kann mir keine Brille leisten«, flüsterte Victoria leise.
»Wir werden das Geld schon irgendwie auftreiben, und wenn wir etwas verkaufen müssen. Du darfst wegen einer solchen Sache, die leicht in Ordnung gebracht werden kann, nicht dein Leben riskieren!«
»Wie wäre es mit einem Schweinebraten zum Abendessen?«, fragte Ethan, der den Eber an den Beinen gepackt und ihn geschultert hatte.
»Sieht ziemlich schrecklich aus«, meinte Tara nach einem Blick auf die staubbedeckten Hauer und die rasiermesserscharfen Zähne. Zu allem Überfluss stank das Tier auch noch furchtbar.
»Während der Regenzeit sollte man sie nicht essen, wegen der Würmer – aber dieser Kerl hier ist schon in Ordnung. Was meinst du, Victoria, wird Nugget nicht begeistert sein?«
»Oh ja! Er stirbt für einen guten Schweinebraten!«
Ethan weidete den Eber aus und hängte ihn in einen Baum, bevor er ihn am Spieß über einem offenen Feuer briet. Als Nugget und die Jungen von der Schafmusterung zurückkamen – sie hatten den Duft des Schweinebratens schon auf eine Meile Entfernung gerochen – war die Schwarte schön knusprig gebraten.
»Gibt guten Braten«, meinte Nugget strahlend, und Tara
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