Der Ruf des Abendvogels Roman
gerade, den Wartenden im Nebenraum die Geldbörsen zu stehlen.
»Ich habe Ihnen doch gestern schon gesagt, Madam, wir wissen nichts über ihren Verbleib«, sagte Magnus Stewart. Er war ein hagerer, furchtbar dünner Mann, der bei Aufregung zu Magenschmerzen neigte, und hatte dementsprechend einen großen Teil der vergangenen Nacht im Badezimmer zugebracht. »Wenn wir etwas wüssten, würden wir es Ihnen selbstverständlich mitteilen!« Er hätte alles getan, um sie und ihren diebischen Nachwuchs nicht mehr sehen zu müssen. »Hat das Rote Kreuz Ihnen denn auch nicht helfen können?«, fragte er mit vorgetäuschtem Interesse.
»Nein – und das dürfte Sie auch nicht allzu sehr überraschen. Ich bin jedenfalls nicht den ganzen Weg von Londonderry hier heruntergekommen – wir hatten übrigens eine sehr beschwerliche Reise –, um jetzt hier von Pontius zu Pilatus geschickt zu werden ...«
Magnus bezweifelte nicht im Geringsten, dass die Reise furchtbar gewesen sein musste. Die fünf waren selbst eine wandelnde Katastrophe, und außerdem eine neuerliche Bestätigung für seinen Entschluss, dem heiligen Stand der Ehe aus dem Weg zu gehen.
»Noch eine Nacht in der Pension kann ich mir nicht leisten, weshalb ich mich gezwungen sähe, mein Lager hier in diesem Büro aufzuschlagen, falls ich nicht bald eine zufrieden stellende Auskunft erhalte«, drohte Moyna.
Magnus dünne Beine drohten unter ihm nachzugeben, und er stützte sich schwer auf den Tresen.
»Aber Sie müssen mir doch etwas sagen können«, stieß Moyna klagend hervor, die offenbar ihre Taktik geändert hatte. »Meine Schwester kann doch nicht in der Wildnis verschwunden sein, oder wie immer man diesen abgelegenen Landstrich nennt, den kein anständiger Katholik als Heimat bezeichnen würde.« Seit sie in der Zeitung von dem Schiffsunglück gelesen hatte, arbeitete Moynas Verstand auf Hochtouren. Ein Angestellter der Schifffahrtsgesellschaft hatte sie von Michaels Tod unterrichtet, der sie nicht weiter berührt hatte. Doch dann hatte sie erfahren, dass die Kennard&Rainer-Linie einem Gerichtsurteil zufolge den Angehörigen der Opfer wegen Fahrlässigkeit Entschädigungen zahlen musste. Maureen hatte also eine anständige Summe zu erwarten und war als Frau eines Geschäftsmannes bestimmt auch gut versichert gewesen. Moyna hatte nach kurzer Überlegung beschlossen, ihrer Schwester und deren Kindern ein Heim anzubieten, in das sie zurückkehren konnten. Dass sie die zusätzlichen Arbeitskräfte gut gebrauchen konnte, nachdem ihre drei ältesten Töchter so egoistisch gewesen waren, ihr Zuhause zu verlassen, war ein willkommener Nebeneffekt.
»Es scheint so, Mrs. Conway, als habe Ihre Schwester bei niemandem eine Adresse hinterlassen, als sie Port Adelaide verließ.«
»Aber irgendjemand muss doch wissen, wo sie ist«, schrie Moyna unbeherrscht. »Ich habe den Eindruck, Sie könnten viel hilfreicher sein, wenn Sie es ernsthaft versuchen würden!«
Magnus spürte, wie es in seinem Bauch zu rumoren begann.
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, Mrs. Conway. Einige Unterlagen sind auf dem Weg von Australien hierher verloren gegangen, und wie Sie sich sicher vorstellen können, war die Lage dort chaotisch. Ich denke, viele der Opfer werden bis zur Unkenntlichkeit verbrannt gewesen sein. Das hat die Identifizierung fast unmöglich gemacht. Die meisten der Leute dort im Warteraum«, er deutet hinter sie, »reisen dorthin, um die persönlichen Habseligkeiten ihre Verwandten zu identifizieren – eine scheußliche Aufgabe!«
Wenn Magnus gehofft hatte, Moyna würde Mitgefühl zeigen, dann hatte er sich getäuscht. Stattdessen verlor sie die Geduld. »Verloren gegangene Unterlagen sind nicht mein Problem, Mr. Stewart. Ich muss meine Schwester finden. Es scheint, als habe die Fahrlässigkeit Ihres Unternehmens fünfzig Menschen das Leben gekostet!«
Im Warteraum hoben die Leute die Köpfe, und Markus war sich der vielen Zuhörer unangenehm bewusst. »Wir tun unser Bestes, Mrs. Conway, aber es gibt Umstände, die sich unserer Kontrolle entziehen«, sagte er.
»Sie reden jede Menge Schwachsinn, Mr. Stewart, und ich glaube Ihnen kein Wort davon. Hatte meine Schwester eine Kabinengenossin auf dem Schiff? Vielleicht weiß diese Frau oder ihre Familie etwas.« Sie hielt es für wahrscheinlich, dass jemand Maureen mit zu sich genommen hatte, und warum nicht die Familie ihrer Kabinengenossin? Maureen hatte bei ihren Mitmenschen immer Sympathie geweckt und, anders
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