Der Ruf des Abendvogels Roman
Zügen erkannte sie tiefen Schmerz, auch wenn sie seine Besessenheit für eine Frau, die es nicht gab, noch immer nicht ganz nachvollziehen konnte.
»Als ich sie – dich – schließlich gefunden hatte, war ich fasziniert, aber auch verzweifelt, weil meine Illusion in sich zusammenfiel. Zuerst glaubte ich, die Zigeuner hätten dich unter Drogen gesetzt, doch mir wurde schnell klar, dass es nicht so war. Und obwohl dein Anblick mich auf fast hypnotische Weise gefangen nahm, fühlte ich mich betrogen.«
Tara fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, und war froh, dass er sie nicht ansah.
»Es war nicht deine Schuld, das weiß ich jetzt, aber als du in die Galerie kamst, hatte ich mich immer noch nicht ganz in der Gewalt.« Jetzt wandte er sich ihr zu, und seine Miene wirkte so ernst, dass Tara den Kopf senkte. »Ich möchte, dass du Folgendes weißt. Ich habe meine Besessenheit besiegt. Ich weiß, dass dich keinerlei Schuld an dem trifft, was ich mir eingebildet habe, ebenso wenig wie daran, was mit dem Mann geschehen ist, der für deinen Vater gearbeitet hat. Es tut mir sehr Leid, dass dein ... Mann nun auch noch dafür bestraft wird, dass er dir geholfen hat.«
»Woher weißt du das?«, fragte Tara.
»Deine Mutter sagte mir, einer der Zigeuner würde gehenkt, weil er Stanton Jackson ermordet hätte. Ich nehme an, dass es dein Mann ist, Tara ...« Ihr Blick sagte ihm, dass er Recht hatte.
»Das war ein Unfall, Riordan. Garvie hat nicht einmal gewusst, dass Stanton tot war.«
»Es ist eine Tragödie, Tara – aber den höchsten Preis hast du zahlen müssen.«
Tränen traten Tara in die Augen und strömten langsam über ihre Wangen. Mit einer ungeduldigen Bewegung wischte sie siefort. »Garvie verliert sein Leben – einen höheren Preis gibt es nicht!«, meinte sie aufschluchzend. Riordan zog sie tröstend an sich, und Tara merkte erst jetzt, wie verzweifelt sie sich nach einer tröstenden Umarmung gesehnt hatte.
»Es tut mir Leid, aber dieses Mal habe ich kein Taschentuch bei mir«, sagte Riordan leise, und Tara musste trotz ihres Kummers lächeln. Riordan sah in ihre tränenfeuchten grünen Augen, und sie las Mitgefühl in seinem Blick. »Ich weiß, dass ich kein Recht habe, dich darum zu bitten, aber wenn du mir verzeihen könntest, könnten wir noch einmal ganz von vorn beginnen«, meinte er. »Ich würde nämlich gern die echte Tara kennen lernen.«
Gegen ihren Willen fühlte Tara, wie seine Worte sie rührten, denn aus ihnen sprach eine entwaffnende Ehrlichkeit. »Ich weiß nicht, Riordan ...«
»Denk darüber nach, Tara. Wenn ich nicht gerade ein besessener Träumer bin, kann ich ein ganz umgänglicher Mensch sein – Victoria war zumindest immer dieser Meinung.« Das Zwinkern seiner blaugrauen Augen erinnerte sie an ihre erste Begegnung mit ihm. Damals hatte sie ihn sehr charmant und geistreich gefunden, und dazu unverschämt gut aussehend.
Verwundert hörte sie sich sagen: »Gut, ich werde darüber nachdenken, Riordan. Aber ich kann dir nichts versprechen!«
Er lächelte sein verheerend strahlendes Lächeln, und sie spürte, wie ihr seltsam flau wurde. Ob er sich der Macht seines Charmes wohl bewusst war? Ein Blick in seine lachenden Augen sagte ihr, dass er es sehr wohl wusste.
»Mehr verlange ich ja auch gar nicht. Und jetzt sag mir, warum ich dich hier so tief besorgt vorgefunden habe. Wenn ich dir helfen kann und du mich lässt, bin ich gern dazu bereit.«
Tara lächelte über seinen kindlichen Eifer. »Kannst du Schafe zusammentreiben?«, fragte sie und lachte über seine erschrockene Miene.
»Also, ich habe schon lange nicht mehr auf einem Pferd gesessen, aber ich glaube, das müsste noch gehen. Was allerdingsSchafe anbetrifft – sie sind mir ungefähr so vertraut wie ... Wasserbüffel ...«
»Ich habe auch noch nie Schafe getrieben – aber wir müssen in den nächsten Tagen tausend Schafe zum Scheren zusammenbringen. Nugget und die Jungen werden jede Hilfe brauchen können, und ich werde es zumindest versuchen. Wie ist es mit dir?«
Riordan wirkte verlegen. »Wenn du bereit bist, bin ich es auch.«
Als sie zusammen ins Haus gingen, fühlte er einen bittersüßen Schmerz. Er ahnte, dass es ebenso leicht sein würde, sich in die echte Tara zu verlieben, wie vom Pferd zu fallen – und das würde er in den nächsten Tagen sicher mehr als einmal tun.
28
I ch kann heute nicht stundenlang im Sattel sitzen«, meinte Tadd, als Tara ihn bat, bei der Musterung der Schafe
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