Der Ruf des Abendvogels Roman
voneinander trennen, und das würde ihnen das Herz brechen.«
Sorrel ging zu Tara hinüber, drückte sie sanft auf das Bett und legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Beruhigen Sie sich, Tara! Lassen Sie die Kinder nicht sehen, wie besorgt Sie sind. Es ist nur natürlich, dass Sie sich Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll, aber es wird ganz sicher alles gut gehen!«
»Woher wollen Sie das wissen, Sorrel? Ich jedenfalls bin plötzlich so unsicher, und ich weiß überhaupt nicht mehr, was um alles in der Welt mich dazu bewogen hat, in meiner Lage auch noch die Verantwortung für zwei Kinder zu übernehmen.«
Sorrel erkannte, dass Tara kurz davor stand, die Nerven zu verlieren. In ihren Augen stand derselbe Ausdruck wie in dem Moment auf dem Schiff, als sie geglaubt hatte, sterben zu müssen.
»Jetzt holen Sie erst einmal tief Luft«, kommandierte die Ältere energisch.
Tara blickte auf, sah die Ruhe, die aus Sorrels Blick strahlte, tat einen tiefen Atemzug und noch einen und fühlte schließlich, wie die Spannung in ihrem Innern sich löste.
»Erstens«, fuhr Sorrel fort, »können Sie, falls Ihre Tante nicht mehr auf der Farm sein sollte und Sie nicht wissen wohin, jederzeit zu mir nach Alice kommen.«
Taras Augen füllten sich mit Tränen. »Oh, Sorrel!«
Der Blick der alten Dame wurde sanfter. »Aber ich bin sicher, dass sie noch dort ist und dass alles gut wird. Aber wenn nicht, sind Sie nicht allein, bitte denken Sie immer daran. Zweitens braucht es einfach etwas Zeit, bis Sie und die Kinder sich aneinander und an die neue Situation gewöhnt haben. Das wird für alle drei nicht leicht sein – aber die Kinder mögen Sie, und Sie haben sie gern, deshalb wird es schon klappen. Erwarten Sie nicht, dass alles reibungslos abläuft, denn das tut es nirgendwo – aber sehen Sie auch nicht in jedem kleinen Hindernis gleich einen Berg.«
Tara ließ den Kopf sinken, doch Sorrel strich ihr sanft über dieWange. »Ich weiß, die Verantwortung ist wirklich sehr groß. Aber allein die Tatsache, dass Sie bereit sind, diese Kinder zu sich zu nehmen, sagt mir, dass Sie ein ganz besonderer Mensch sind. Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich glaube, Sie besitzen eine innere Stärke, wie sie nicht vielen Menschen eigen ist.«
Von neuer Hoffnung erfüllt blickte Tara zu Sorrel auf. »Meinen Sie wirklich?«
»Ja, das tue ich – und ich sage solche Dinge nicht einfach so dahin!«
Das glaubte Tara ihr sofort, und ein leichtes Lächeln huschte über ihre schönen Züge.
»Sie werden eine gute Ersatzmutter, glauben Sie mir!«
Tara seufzte. »Normalerweise bin ich auch gar nicht so pessimistisch – ich habe nur ...«
»Angst? Das ist doch auch ganz normal unter diesen Umständen, nach allem, was wir in den letzten Tagen durchgemacht haben. Wir hatten ja noch gar keine Zeit, den Schrecken zu verarbeiten ...«
Das stimmte, und Tara hatte noch gar nicht richtig um Maureen und Michael trauern können – ebenso wenig wie die Kinder. Jack verdrängte seine Gefühle, während Hannah völlig verwirrt und verloren schien.
Tara fürchtete zudem, die Behörden könnten doch noch die Wahrheit herausfinden. Entschlossen schlug sie vor: »Lassen Sie uns am Bahnhof fragen, wann der Zug abfährt. Je früher wir Adelaide verlassen, desto besser.«
An der Bahnstation am Hafen bekamen sie die Auskunft, dass der ›Ghan-Train‹, der früher ›Afghanischer Express‹ geheißen hatte, Adelaide einmal in der Woche verließ, und zwar am folgenden Tag. An dem Tag sollten auch die toten Passagiere und Besatzungsmitglieder auf dem Cheltenham-Friedhof beigesetzt werden.
»Wenn wir diesen Zug nicht nehmen, müssen wir noch eineganze Woche in Adelaide bleiben, und das würde den Behörden viel Zeit geben, um die Wahrheit herauszufinden.«, meinte Tara zu Sorrel, als sie sich vom Schalter entfernten.
»Sie haben Recht«, erwiderte die Ältere. »Es sieht wirklich so aus, als könnten Sie nicht zur Beerdigung gehen.« Sie warf einen Blick zu den Kindern hinüber. »Sie werden es Jack erklären müssen – er wird traurig sein, am Begräbnis seiner Eltern nicht teilnehmen zu können. Vielleicht würde es ihm leichter fallen, sich mit dem Verlust abzufinden, wenn er dabei sein würde. Andererseits ist er aber noch so jung, dass es ihn vielleicht überfordern würde ...« Sie betrachtete den Jungen sorgenvoll. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen raten soll, Tara. Er hat bisher kaum ein Wort gesagt, deshalb wissen wir nicht, was
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