Der Ruf des Abendvogels Roman
genauso«, gab diese zurück.
Während Tara beide Kinder im Arm hielt, erkannte sie plötzlich, wie groß die Aufgabe war, die sie übernommen hatte, und diese Erkenntnis überwältigte sie. So viele Jahre lang hatte sie flehentlich um ein Kind gebetet, und nun hatte sie plötzlich gleich zwei; wovon sollte sie sie ernähren, und was für Probleme mochten auf sie zukommen? Wenn die Behörden herausfanden, was sie getan hatte, würde man sie verfolgen. Und was würden die Kinder tun, wenn sie sich vom ersten Schock erholt hatten und begriffen, dass sie ihre Eltern niemals wiedersehen würden?
Jack löste sich aus ihrer Umarmung und blickte sie an. Auf seinem kleinen Kindergesicht malte sich große Sorge. Man sah ihm an, dass er daran dachte, was nun mit seiner Eltern geschehen würde. Tara selbst war zu erschüttert gewesen, um danach zu fragen.
»Mrs. O’Sullivan?«, rief Ruby Ashton.
Sorrel versetzte Tara einen Stoß. »Mrs. O’Sullivan, Mrs. Ashton ruft nach Ihnen!«
Tara wandte sich hastig um. »Ja?«, erwiderte sie, während ihrHerz bei dem Gedanken zu rasen begann, dass man sie vielleicht schon durchschaut hatte.
»Es tut mir Leid, wenn ich Sie schon wieder stören muss, aber – könnten wir über die Beerdigungsformalitäten für Ihren Mann sprechen?«
Tara seufzte vor Erleichterung tief auf. »Natürlich!«
6
P ort Adelaide war eine blühende Grenzstadt, mit vielen ein- drucksvollen Gebäuden verschiedener Stilrichtungen und dem wichtigsten Hafen der Kolonie. Tara und Sorrel stellten erleichtert fest, dass die Stadt nicht so kulturlos wirkte, wie sie insgeheim befürchtet hatten. Während sie durch die breiten Straßen schlenderten, die von Läden gesäumt waren, erkannten sie von weitem, dass der Hafen eine riesige Baustelle war. Einige der alten Docks wurden modernisiert, und Flussbett und Hafenbecken wurden ausgebaggert, um größeren Schiffen die Einfahrt zu ermöglichen.
Unzählige Schiffe lagen vor Anker, darunter einige Ketsche, die von bulligen Hafenarbeitern entladen wurden. Tara stellte fest, dass es in der Stadt sehr viel mehr Industrie gab, als sie gedacht hatte. Man erzählte ihnen, dass die ersten Siedler vor mehr als hundert Jahren an diesen Ort gekommen waren.
»Ein Mannschaftsmitglied auf dem Schiff hat mir erzählt, die Gegend wäre früher ein einziger Sumpf gewesen«, sagte sie zu Sorrel, als sie eine breite, befahrene Straße überquerten.
»Das glaube ich gern«, erwiderte Sorrel. »Die Fliegen und Moskitos sind nämlich immer noch hier.«
Sie standen an der Black Diamond Corner, einer verkehrsreichen Kreuzung, und alles um sie herum wirkte sehr fremd, sogar die Gerüche. Die beiden Frauen vermissten das irische Essen mehr, als sie jemals gedacht hätten. Die Mahlzeiten auf dem Schiff waren einfach und langweilig gewesen, und der Appetit auf Porridge war ihnen beiden für lange Zeit vergangen.
Am nötigsten war den beiden Frauen nach einem Blick in ihre Kleiderpakete ein Einkaufsbummel erschienen. Sorrel hatte ein ärmelloses Kostüm erhalten, das sie abscheulich fand. Es war aus muffig riechendem Baumwollstoff, mit großen, pinkfarbenen Blüten auf schreiend grünem Grund. Abgesehen davon, dass es zu eng war und über ihrem üppigen Busen spannte, gleichzeitig auch so kurz, dass sie sich unwohl fühlte, war es das hässlichste Kleidungsstück, das sie jemals gesehen hatte.
Tara mochte kräftige Farben und war dadurch vielleicht etwas flexibler, wenn es um Kleidung ging. Doch auch sie fand ihr Kostüm abscheulich. Es war aus einem roten Stoff, bedruckt mit blauen Punkten. Das Oberteil war zu groß und, hing wie ein formloser Sack an ihr herunter. Der Faltenrock ließ sie zudem sehr matronenhaft wirken. Sie hätte mit Sorrel tauschen können, doch als die Ältere den Ausschnitt von Taras Kostüm gesehen hatte, war sie erschrocken zurückgefahren.
Tara und Sorrel betraten den Sinclair Draper and Clothing Store, wo sie für sich und die Kinder neue Schuhe und ein paar persönliche Dinge kauften wie eine Handtasche für jede, Taschentücher, Lippenstifte und Rouge, und natürlich Unterwäsche. Tara richtete sich in allem, was sie kaufte, nach Sorrels Geschmack, weil sie keine Ahnung hatte, wie sich eine respektable Dame zu kleiden hatte.
Der Geschmack der Zigeuner war jedenfalls ganz anders, musste sie feststellen. Der Geschäftsinhaber und seine Frau hatten bald erkannt, dass sie Überlebende der Emerald Star vor sich hatten, und waren reizend um sie bemüht. Cyril Peters
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