Der Ruf des Abendvogels Roman
Ihre Gedanken waren zu ihrem achtzehnten Geburtstag zurückgewandert ...
»Ist dir denn auch schon einmal so etwas Schlimmes passiert?«, fragte er mit ungewöhnlich ernstem Blick. »Sind deine Eltern tot?«
»Nein, aber ich habe etwas ziemlich Schreckliches erlebt. Ich bin darüber hinweggekommen, und das wirst du auch tun, auch wenn es jetzt schwer zu glauben ist. Mit der Zeit tut es weniger weh. Du wirst deine Eltern natürlich nicht vergessen, und das sollst du auch nicht, aber die Wunde in deinem Herzen wird heilen. Denk nur immer daran, dass deine Eltern immer über dich wachen werden. Nicht jeder glaubt daran, aber ich denke, deine Mama und dein Papa sind jetzt bei den Engeln im Himmel.«
»Mama hat mir vom Himmel erzählt«, meinte Jack. »Sie hatgesagt, Großmutter und Großvater sind im Himmel und passen auf uns auf.«
»Ich glaube, deine Eltern schauen auch auf dich und Hannah herunter, und sie werden immer, immer bei euch sein.«
Dieser Gedanke schien Jack ein leiser Trost zu sein.
Der Zug fuhr durch die äußeren Stadtbezirke von Adelaide und hielt auf die Innenstadt zu. Es war heißer, als sie sich jemals hätten vorstellen können. Tara bemitleidete Sorrel insgeheim, deren Unterwäsche ihr zweifellos schon wie eine feuchte zweite Haut am Körper klebte. Zum Glück standen wenigstens die Türen offen, sodass die Luft durch die Waggons wehen konnte. Der Wind war zu heiß, um echte Abkühlung zu bringen, doch er half immerhin, ihren Schweiß zu trocknen.
Sorrel und Tara fanden die kleinen Häuschen mit den winzigen Fenstern und den Veranden an der Vorderfront so ganz anders als die Häuser in England und Irland. Der europäische Einfluss war zwar zu erkennen, doch die überdachten Veranden gaben dem Ganzen ein seltsames Aussehen. Den größten Unterschied zu Irland bildete die Farbe der Landschaft: Irland war überall grün, was Tara bisher immer als selbstverständlich hingenommen hatte. Die offenen Weiden, an denen sie jetzt vorüberkamen, lagen braun und verdorrt unter der sengenden Sonne. Der Rasen in den Gärten war gelb, und die Zweige und Blätter der Bäume wirkten welk.
Sorrel dachte an Alice Springs. Wie würde es dort sein? Das Bild einer staubigen, von heißem Wind durchwehten Kleinstadt, in der es vor Fliegen nur so wimmelte, erschien vor ihrem geistigen Auge, und sie erschauderte. Obwohl sie sich sehr auf Marcus freute, sehnte sie sich schon jetzt mit jeder Faser nach England zurück.
Am Bahnhof in der Innenstadt von Adelaide kaufte Tara sich und den Kindern Fahrkarten für den ›Ghan-Train‹, während Sorrel ihr hinterlegtes Ticket abholte. Der Zug würde am folgendenNachmittag um drei Uhr abfahren, und der Schalterbeamte schärfte ihnen ein, spätestens um zwei Uhr da zu sein. Sie nahmen sich Zimmer im ›Grosvenor-Hotel‹, direkt gegenüber dem Bahnhof.
Während Sorrel sich auf ihrem Bett ausstreckte, um unter einem Ventilator ein wenig auszuruhen, erkundete Tara mit den Kindern die Stadt. Sie aßen Eis und spazierten am Fluss entlang, dann die Hauptstraße und die ›King-William-Street‹ hinunter. Sie bummelten durch die Geschäfte, und Tara kaufte für jedes Kind ein kleines Spielzeug. Es machte sie traurig, mitansehen zu müssen, wie rasch deren Freude über das Spielzeug wieder erlosch – der Schmerz über den Verlust der Eltern war immer noch zu groß.
Am nächsten Tag gingen sie um zwei Uhr nachmittags zum Bahnhof hinüber und stiegen in den Zug ein, der in mehrere Klassen geteilt war, wie Tara nicht eben erfreut feststellte. Es gab verschiedene Wagen für Transportgüter, frische Lebensmittel und die Post, außerdem Schlafwagen der ersten und zweiten Klasse sowie einen eigenen für die Eingeborenen, in den einige Aborigines und ein paar ernste, offensichtlich aus Afghanistan stammende Männer mit Turbanen auf dem Kopf einstiegen.
Während der ersten halben Stunde der Reise fuhren sie an den Hinterhöfen der weit verstreut liegenden nördlichen Vororte vorbei. Danach durchquerte der Zug die ›Adelaide Plains‹, eine flache Ebene mit eintöniger Landschaft, in der Siedler Getreide angepflanzt hatten. Am späten Nachmittag passierten sie die Küstenstadt Port Germein. Dort erstreckte sich ein fast eine Meile langer hölzerner Pier ins Meer.
»Port Germein war als Umschlaghafen für Getreide angelegt«, erklärte ihnen der für ihren Wagen zuständige Schaffner Virgil Walcott, als er den Nachmittagstee servierte. Er redete ununterbrochen, seit sie eingestiegen
Weitere Kostenlose Bücher