Der Ruf des Abendvogels Roman
die Passagiere zu ernähren.«
»Ziegen!«, stieß Sorrel entsetzt hervor.
Tara hatte schon die verschiedensten Tiere gegessen – zum Beispiel Dachse, Igel und Brachvögel – und war deshalb wenig beeindruckt.
»Das hier ist trockenes, wildes Land, meine Damen, und zwar sowohl für Menschen als auch für Maschinen. Es gibt so gut wie kein Wasser an der Erdoberfläche, aber wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist die Landschaft von ausgetrockneten Flussbetten durchzogen, die sich innerhalb von Stunden in gewaltige Ströme verwandeln können.«
Als der Schaffner davongeeilt war, hatten Tara und Sorrel verwunderte Blicke gewechselt.
»Am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen«, hatte Tara gemeint. »Ich glaube, vor Überschwemmungen brauchen wir im Augenblick keine Angst zu haben.«
»Trotzdem ist es gut, dass wir die Reise nicht im Winter machen«, hatte Sorrel erwidert. »Ich habe das Gefühl, das ›Outback‹ hält sehr viel mehr Überraschungen bereit, als wir uns vorstellen können.«
Wie um Sorrels Worte zu bestätigen, stand der Zug still, als sie am folgenden Morgen erwachten. In der Erwartung, sich in einem Bahnhof zu befinden, zogen sie die Vorhänge am Abteilfenster zurück und stellten fest, dass sie mitten im Niemandsland standen.
Virgil eilte gerade auf dem Gang vorbei, als Tara ihre Kabinentür aufstieß. »Warum haben wir angehalten?«, fragte sie.
»Die Schienen haben sich durch die Hitze verzogen. DerIngenieur kann nichts tun, aber das Gleis muss repariert werden, bevor wir weiterfahren können. Glücklicherweise ist Marree ganz in der Nähe.«
»Ich sehe aber keine Stadt – da draußen ist gar nichts, absolut nichts!«, stieß Tara ungeduldig hervor.
»Sie können die Stadt von hier aus auch nicht sehen. Sie ist noch zwei Meilen entfernt.«
»Zwei Meilen?«, wiederholte Sorrel unbehaglich. »Wir sollen also zwei Meilen zu Fuß gehen?«
»Genau. In Marree gibt es Bahnarbeiter, die die Strecke reparieren können – und außerdem Geschäfte und ein Hotel ...« Virgil lächelte, als er sah, wie die besorgten Mienen der beiden Frauen sich langsam entspannten.
Als den Reisenden beim Aussteigen geholfen wurde, war es mit der eben noch empfundenen Erleichterung rasch vorbei. Die Landschaft rundum war eintönig und vollkommen eben. Sie konnten nicht unterscheiden, wo der Horizont endete und der Himmel begann, denn alles sah irgendwie gleich aus.
Es war noch früh am Morgen, aber über der roten Erde und den grauen Büschen hing schon ein Dunstschleier als Vorzeichen der alles versengenden Hitze, die sie während des Tages erwartete – einer Hitze, vor der es kein Entkommen gab.
7
W ie weit müssen wir noch laufen?«, fragte Jack ungeduldig, während er mit Hannah auf den Armen weitertaumelte. Es war immer noch früh, aber die Hitze des Wüstensandes brannte sich bereits durch die Sohlen ihrer Schuhe. Bis zum Mittag würde die Temperatur unerträglich werden, und sie waren jetzt froh über die auf Cyril Peters Rat hin gekauften breitkrempigen Hüte. Die Sonne brannte zwar noch immer erbarmungslos auf sie nieder, aber zumindest waren ihre Gesichter geschützt.
Tara trug ihren gemeinsamen Koffer, der nicht schwer, aber sperrig war. Jack tat ihr Leid. »Lass Hannah doch ein bisschen laufen«, schlug sie behutsam vor. Als Jack zögerte, fragte sie: »Das schaffst du doch, Hannah, oder?«
Die Kleine starrte sie aus traurigen Augen an und wandte dann den Kopf ab, wobei sie sich weiter an den Bruder klammerte. Virgil Walcott kümmerte sich um Sorrel und eine andere ältere Dame, die sehr unter der Hitze litt. Der Schaffner, selber auch nicht mehr der Jüngste, schlug taktvoll vor, die Damen sollten sich doch etwas von ihrer hinderlichen Unterkleidung entledigen. Aber seine Empfehlung stieß auf Empörung und taube Ohren.
»Wir müssen so schnell wie möglich in den Schatten«, sagte er und versuchte vergeblich, zur Eile zu drängen. »Wir wollen doch nicht an einem Hitzschlag sterben!«
»Es wird meinem Sohn gar nicht gefallen, wenn er hört, dass ich laufen musste, nachdem er mir eine Fahrkarte für die Erste Klasse gekauft hat«, murmelte Sorrel mit finsterer Miene.
Die meisten der Passagiere europäischer Herkunft, fünfzehn Erwachsene und sieben Kinder, waren weit vor ihnen, doch Tara musste Rücksicht auf die Kinder und Sorrel nehmen und kam nur langsam voran. Ihr fiel auf, dass die Aborigines und die Afghanen irgendwo in der flachen konturlosen Landschaft verschwunden waren. Wenn sie
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