Der Ruf des Abendvogels Roman
erfolgreich sein können, und ihr gemeinsames Leben wäre sicher ganz anders verlaufen. Dann hätte er es nicht nötig gehabt, auf fremdem Besitz zu wildern, und er hätte sich auch nicht so oft im Gefängnis wieder gefunden und sie ohne Mittel zurückgelassen. Doch sie schob diese traurigen Gedanken rasch von sich, denn die Vergangenheit war nicht mehr zu ändern, und sie war entschlossen, diese hinter sich zu lassen. Sie musste an die Zukunft denken und ihr Leben mit den Kindern planen.
Während Tara sich die restlichen Bilder ansah, schweiften ihre Gedanken in die jüngste Vergangenheit, in die Harcourt Gallery und zu Riordan Magee. Sie war sicher, dass auch er die Wandbilder gut und die Künstler talentiert finden würde. Obwohl sie absolut nichts von Kunst verstand, gefielen ihr einige der Wandgemälde besser als manche der Kunstwerke in der Galerie. Während ihr noch verschiedene andere Gedanken durch den Kopf gingen, spürte sie, dass Ethan sie beobachtete – etwas, das er öfter zu tun pflegte, wenn er glaubte, sie würde es nicht merken. Sie hatte das Gefühl, dass ihm nur sehr wenig entging.
»Sie sind wirklich sehr gut«, erklärte sie, um seine Aufmerksamkeit von sich abzulenken. »Ich behaupte zwar nicht, viel davon zu verstehen, aber ich hatte die Möglichkeit, Werke zu studieren, die als gut angesehen werden.«
Er nickte, und sie konnte sehen, dass ihre Worte ihn freuten.
Jedes der Bilder spiegelte auf seine Weise das Leben im Herzen Australiens. Ethan gab ihr von sich aus keine Erklärungen, und so stellte sie ihm ab und zu Fragen. Seine Antworten waren kurz, doch sie hörte den Stolz aus seiner Stimme heraus. An einer Wand waren Viehtreiber dargestellt, die am Lagerfeuer in einem Kessel Tee aufbrühten. Ein anderes Gemälde zeigte den Sonnenuntergang über dem Ayers Rock, einem riesigen Steinblock in der Wüste südlich von Alice Springs, der die Farben der Erde und der Sonne wunderschön in sich aufnahm und wieder ausstrahlte. Ethan erzählte, wenn das Licht sich ändere, wandele auch der Felsen seine Farbe.
Taras Blick fiel auf eine einsame, schindelgedeckte Hütte mit einer durchhängenden Holzveranda. Wüstensand hatte sich an den Außenwänden der Hütte aufgetürmt und gab ihr einen vernachlässigten, windschiefen Anschein. Der Anblick entsprach genau Taras schlimmsten Befürchtungen darüber, wie Tambora wohl aussehen mochte, und obwohl sie heftig dagegen ankämpfte, stieg tiefe Mutlosigkeit in ihr auf.
Wieder schien Ethan ihre Gedanken zu lesen. »Fürchten Sie sich vor dem, was Sie in Tambora erwartet?«, wollte er plötzlich wissen.
»Ich freue mich darauf, meine Tante wiederzusehen«, erwiderte sie ausweichend, um ihre bösen Ahnungen zu verbergen. Er sagte nichts, das ihre Befürchtungen zerstreut hätte, und sie traute sich nicht zu fragen, wie es auf der Farm aussah. Selbst wenn es ihre schlimmsten Erwartungen übertraf, musste sie eine Weile dort bleiben, schon allein wegen der Kinder und um ihrer Tante zu helfen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit einer anderen Wand zu, auf der Kängurus und rosa-weiße Kakadus in Kautschukbäumen abgebildet waren, außerdem Aborigines auf der Jagd mit Speeren und Bumerangs sowie eine Emuhenne mit ihren Küken.
Auf langen Regalen über der Bar stand eine sehr ungewöhnliche Sammlung verschiedener Flaschen. Ethan behauptete, sie stammten von Orten aus der ganzen Welt. Außerdem gab es Hunderte von Bierdeckeln. Über der Tür hing ein Paar riesiger Hörner, und als Tara danach fragte, erklärte Ethan, sie hätten einem wütenden Büffel gehört, der einen voll beladenen, von Kamelen gezogenen Wagen angegriffen und umgeworfen habe, bevor er ihn erschossen hatte.
Auf einem anderen Regal lagen mehrere bemalte Emu-Eier, einige Speere und Bumerangs und sogar die Kiefer eines riesigen Krokodils.
»Und woher stammt das?«, fragte Tara und deutete auf die Kieferknochen mit tödlich spitzen Zähnen.
»Ich würde sagen, dieser alte Genosse hier ist mit einerFlutwelle den Cooper-Fluss hinuntergespült worden, das geschieht zwar sehr selten, aber man hat schon davon gehört.«
»Wer hat ihn getötet?«
Ethan schwieg einen Augenblick, bevor er schlicht antwortete: »Das war ich.«
»Aber warum? Nur aus Spaß?«
Er sah sie an, als sei er enttäuscht darüber, dass sie ihm so etwas zutraute. »Es hat ein Eingeborenenkind angegriffen, bevor ich ihm die Kehle durchgeschnitten habe, einen vierjährigen Jungen. Dass er noch lebt, ist nur guter Buschmedizin und
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