Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
Zeit davonlief. Langsam leerten sich die Straßen, und bald würde die Dämmerung einsetzen. Lance fand meinen Arm und zog mich mit sich, zurück zum Haus. Wir waren jetzt nur noch einen Block von der Gasse entfernt, in der wir die erste Tragödie des Abends mitangesehen hatten. Und dann hörte ich es, das kratzende, scharrende Geräusch einer weiteren Leichenschändung. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Ich rannte los.
»Nein!«, flüsterte Lance.
»Doch«, fauchte ich zurück.
Gemeinsam folgten wir den Lauten, bis wir den mit einem Tor verschlossenen Hof eines Restaurants erreichten, das schon seit Stunden geschlossen war. Es waren vier von ihnen, zwei Männer, zwei Frauen, inzwischen lauter bekannte Gesichter, und sie nahmen gerade ihre grässlichen Trophäen an sich, zweifellos für das nächste Ritual. Mit blutverschmierten Händen und Kleidern ließen sie alle gleichzeitig von dem Toten ab. Dann wandelte sich ihre Gestalt. In ihrer neuen Form waren sie plötzlich wieder sauber, hielten ihre düsteren Souvenirs aber immer noch in der Hand. Die schoben sie nun in Handtaschen und Rucksäcke – Stofffetzen, eine Uhr, hier einen Finger, dort ein Ohr, ein kleines Fläschchen mit Blut. Dann sprangen sie mit einem Lächeln über das Tor und schlenderten locker davon. Den grausam zugerichteten Körper ließen sie dort einfach zwischen Blumen liegen.
Nun hielt ich es nicht mehr aus, ertrug diese Mordserie nicht länger, gegen die ich viel zu wenig getan hatte. In mir wallte der Zorn auf und verhinderte, dass mich Angst lähmte. Also folgte ich ihnen. Ich musste einfach wissen, wohin sie jetzt gingen. Was passierte denn nun nach dieser Raserei? Mir war klar, dass es wegen meiner Entscheidung in Lance brodelte, selbst als er in Schattenform neben mir herlief. Aber ich wusste ebenfalls, dass er mich nicht allein gehen lassen würde. Deshalb folgten wir nun beide der Gruppe, während sie zum Park zurückzukehren schienen, in dem der Abend begonnen hatte.
Aber sie bogen ab, bevor sie den Congo Square erreichten. Stattdessen kletterten sie über ein ganz anderes Tor, das wir aber nur zu gut kannten: das von Saint Louis Number One. Sie rannten weiter und weiter, bis ganz nach hinten, schlängelten sich die Pfade entlang, spielten mit den niedrigen Gräbern Bockspringen und machten einen weiten Satz auf die höheren, bis sie schließlich ihr Ziel erreichten: das von Lance gebaute Grabmal. Die makellose weiße Ruhestätte glühte wie ein Leuchtfeuer. Die Krewe-Mitglieder schoben die weiße Marmorplatte zur Seite und verschwanden in dem etwa 60 cm hohen Loch. Es gelang uns, hinter ihnen hineinzuhuschen, dabei mussten wir uns aber so dicht hinter ihnen halten, dass ich eine der jungen Frauen anstieß. »Finger weg, Marcus. Dafür ist später noch Zeit«, flötete sie.
»Wie du meinst«, grunzte der mit dem schiefen Grinsen verwirrt.
Im Inneren war es eng – der Raum war etwa zwei Meter hoch und knapp drei Meter breit, Wände und Boden waren aus Marmor und warm wie ein Backofen.
»Lassen wir das jetzt einfach alles hier liegen? Und wer streicht dann die Lorbeeren für unsere Arbeit ein?«, fragte das andere Mädchen in verträumtem, abwesendem Tonfall, während sie den Beutel mit allen möglichen Körperteilen ausleerte. Der Rucksack des anderen Mannes landete auf meinem rechten Fuß. Ich spürte das warme Gewicht seines weichen, frisch geernteten Inhalts und hätte mich so gerne davon befreit, fürchtete aber, dass uns jede Bewegung verraten würde. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, und ich versuchte, mich lieber auf etwas anderes zu konzentrieren.
»Lass sie ruhig hier, er wird schon alles zuordnen können. Er ist echt gut«, erklärte Marcus. »Früher war er mal eine ganz große Nummer, hat dann aber wohl irgendwie den Fürsten verärgert.«
»Und das solltet ihr lieber vermeiden«, knurrte der andere Mann mit schroffer Stimme.
»Und was jetzt?«, fragte die junge Frau.
»Jetzt feiern wir natürlich«, sagte Marcus. Er begann, auf die Dunkelheit im Inneren der Gruft zuzulaufen. Eigentlich war ich ja davon ausgegangen, dass sich dort eine Wand befand, aber er rannte immer weiter, und seine Schritte wurden leiser und leiser. Die anderen drei brachen in Jubel aus und folgten ihm johlend. Ein Teil von mir wollte abwarten, bis sie weit genug weg waren, damit ich kurz mit Lance sprechen konnte – immerhin hatte er dieses Ding gebaut. Hatte er gewusst, was sich hier unten verbarg? Und wo führte dieser Gang bloß
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