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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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ins Badezimmer, um ziemlich lange mit Wasserhähnen und der Brause herumzuspielen. Ich stand am Fenster und sah, wie die Nacht über Berge und Tal fiel. Die Dämmerung brachte die Fledermäuse. Schnell verlor das Treiben der Händler und Glückssucher im Tal die Farben, erlosch, wurde grau und verschwand. Tausende kleiner Lichter begannen zu glimmen, flackernd und flüchtig.
    Was mochten die Männer, Kinder und Frauen wohl denken, wenn sie zu uns heraufblickten und die erleuchteten Fenster des Hotels sahen? Wie ein Palast musste es ihnen vorkommen. Für sie waren Leandro und mein Vater Könige und Elena und ich Prinzessinnen, die in Eselsmilch badeten.
    Auch mir kam der Unterschied krass vor. Erst vor einer guten Stunde waren wir in einem einsamen Tal an einem See fast von Dschungelkriegern erschossen worden. Erst heute Morgen hatte ich mit den Andenbären Freundschaft geschlossen und Damián meine ewige Treue geschworen. Gestern war ich mit ihm im Smaragdsee geschwommen und ihm so nahe gewesen wie nie vorher.
    »Er wird sich schon bei dir melden, wenn ihm wirklich was an dir liegt«, hatte mein Vater vorhin gesagt! Hatte er eigentlich gewusst, was er da aussprach, ungeduldig und schnell, damit ich endlich mit ihm zum Hubschrauber ging? Ein rasches, vernichtendes Urteil. Wenn ihm was an dir liegt, siehst du ihn wieder, wenn du ihn nicht wiedersiehst, dann liegt ihm nichts an dir. So einfach ist das. Aber so einfach war es eben nicht! Zwischen Damián und mir gab es etwas, das uns immer verbinden würde. Auch wenn das alles nur ein Märchen gewesen war, das in diesem brutalen Land zwischen Minenelend und Diplomatenball keinen Bestand haben konnte.
    »Sei nicht traurig«, sagte Clara und legte mir die Hand auf den Arm. Ihr Haar war feucht von der Dusche und hing ihr offen und üppig bis zum Gürtel herab. Sie lächelte mir schwesterlich in die Augen. »Du musst dir merken, was du träumst, Jasmin. Dann wird Mama Lula Juanita dir sagen, was geschehen wird.«
    »Dann hat sie sicher auch deine Träume gedeutet?«
    Ein Schatten fiel über Claras Gesicht. Sie nickte.
    »Und, was sagen sie?«
    »Es ist lang her, über drei Jahre. So lange ist Juanita schon fort. Meine Träume haben damals gesagt, dass ich bald sterben werde. Aber Mama Lula meinte, dass Träume sich auch irren können, wenn sie gefangen sind in der Angst.«
     
    Den Abend verbrachten wir in Leandros Hotelsuite. Er hatte eine kleine Band gebeten aufzuspielen. Das Hotel servierte uns ein festliches Ajiaco Santafereño und dann bekam Elena von ihrem Vater einen Platinring mit einem daumennagelgroßen Smaragd überreicht.
    Ich erinnerte mich dunkel, dass ich in meinem vorigen Leben insgeheim gehofft hatte, auch für mich werde Elenas Vater ein kleines Schmuckstück mit einem Smaragd als Geschenk haben, aber das kam mir jetzt bedeutungslos vor. Wie hätte ich auch ein Schmuckstück tragen können, das nicht ein Geschenk Damiáns gewesen wäre? Es wäre mir wie Betrug vorgekommen. Außerdem wäre es mir peinlich gewesen, wenn Clara dabei leer ausgegangen wäre. Zum Glück gehörte Leandro nicht zu denen, die mit den teuren Edelsteinen, die er fördern ließ, freigiebig umgingen.
    Mein Vater wollte bald zu Bett und am anderen Tag früh aufstehen, um so vielen Menschen wie möglich seine medizinische Hilfe anbieten zu können. Uns allen fielen die Augen zu, deshalb zogen wir uns ziemlich bald in unsere Zimmer zurück.
    Clara staunte, wie weich die Matratze war, die ich in meinem Bett ziemlich hubbelig fand. Sie war sich sicher, die Nacht überhaupt nicht schlafen zu können, vor allem vor Aufregung.
    »Ich bin frei!«, sagte sie leise und inbrünstig. »Mein Onkel Tano hat mir zwar befohlen, dass ich zurückkomme, aber ich weiß, dass ich nie wieder in Yat Pacyte leben werde. Ich werde Tante Maria und Ana und Alejandra nie wiedersehen ...« Daraufhin weinte sie ein bisschen. Ich legte den Arm um sie und weinte auch ein bisschen. Grund genug hatte ich dazu.
    »Da fällt mir etwas ein!«, sagte Clara plötzlich, stand auf und begann in dem Beutel zu kramen, den sie bei sich hatte. Sie zog eine murmelgroße weiße Kugel hervor, durch die ein Loch gebohrt und eine dünne, aber zähe Pflanzenfaser gefädelt war.
    »Kautschuk«, erklärte mir Clara. »Er hat etwas eingeritzt.«
    »Wer?«
    »Damián. Er hat es mir zum Abschied gegeben.«
    »Wann denn? Er hat sich doch gar nicht von uns verabschiedet.« Er war uns ja nicht einmal mehr nahe genug gekommen, um uns auch nur

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