Der Ruf des Kolibris
hatten sich Geschichten erzählt und gesungen. Stundenlang hatten sie gesungen, oft im Kanon.
»Man sagt«, erklärte sie mir, »das Leben der Frauen vom Volk der Nasas sei Liebe, Hingabe, Tapferkeit und Widerstand. Unsere Kinder sind unsere Liebe, bei uns gibt es keine verlassenen oder misshandelten Kinder, unsere Hingabe gilt der Familie, deren Seele und Ernährer wir sind, zu Hause am Herd. Tapferkeit brauchen wir, um unsere Männer im Kampf um Land und Freiheit zu begleiten, und unser Widerstand gilt der westlichen Kultur, der spanischen Sprache und dem verfluchten Katholizismus, der uns unsere Identität geraubt hat. Wir sind es, die unsere Kultur aufrechterhalten, wir lehren die Kinder unsere Sprache, wir bestellen die Felder und füttern die Tiere. Wir sind der Kern des Widerstands gegen die westliche Kultur. Die Männer gehen fort und erliegen allzu oft den Versuchungen von Alkohol und Geld.«
»Aber wenn eine Frau diese Rolle nicht spielen will?«, fragte ich.
Clara lächelte. »So wie Mama Lula Juanita. Sie ist nicht nur eine Piache , eine Traumdeuterin, sie ist auch eine Medizinfrau und Zauberin. Und obwohl sie nichts anderes tut, als unsere uralten Traditionen zu erhalten und auszuüben, hat sie zugleich mit der Tradition gebrochen. Denn bei uns kann eine Frau niemals Medizinerin und geistliche Führerin sein. Diese Rolle ist dem Thé Wala vorbehalten, dem Großen Mann.«
»Hat sie euch deshalb verlassen und ist nach Bogotá gegangen?«
»Vielleicht.« Clara wirkte plötzlich verschlossen. »Es gab Diskussionen mit Tano und Männern aus anderen Siedlungen. Und dann kam Susanne ...«
»Die Lehrerin aus Deutschland.«
Clara nickte. »Tano gehört zu den Leuten, die dagegen sind, dass man uns Lesen und Schreiben beibringt. Vor allem lehnt er es ab, dass wir in unserer eigenen Sprache, dem Nasa Yuwe , lesen und schreiben lernen.«
»Das ist doch bescheuert.«
»Nicht unbedingt. Unsere Kultur wird mündlich überliefert, von den Müttern und den Thé Walas . Sie besitzen das Wissen. Sie fürchten, dass sie ihre Autorität verlieren, wenn das Wissen aufgeschrieben wird und für jedermann zugänglich ist.«
»Typisch Mann!« Clara lachte.
Aber im Grunde war es bei ihr genauso gekommen. Sie und andere Mädchen aus den Bergen waren bei Susanne in den Unterricht gegangen und hatten viel mehr über die Welt erfahren, als die Kinder üblicherweise in den Dorfschulen der Ureinwohner lernten. Als Clara dann verkündete, sie wolle Meeresbiologin werden, hatte Tano ihr verbieten wollen, sich weiter mit Susanne zu treffen. Sie hatte es trotzdem getan, er hatte es herausbekommen und es hatte Streit gegeben. Das war vor gut drei Jahren gewesen.
»Hat er dich geschlagen?«, fragte ich.
Clara schüttelte stumm den Kopf.
»Was hat er gemacht?«
»Nichts!«
Das klang schlimmer, als wenn er sie verprügelt hätte.
»Aber mir war klar, dass ich ihn nicht noch einmal hintergehen durfte. Es gibt immer den Punkt, da weiß man, dass man nicht weitergehen kann, nicht wahr?«
»Und deine Großmutter Juanita? Wo war die?«
»Sie hat mich unterstützt. Aber dann ...« Ein Schatten fiel über Claras Gesicht. »... wurde Susanne entführt. Und Juanita ist weggegangen.« Sie schloss die Augen.
Ich fragte Clara nicht mehr nach ihren Eltern, die bei einem Überfall der Paras auf ihr Dorf getötet worden waren, wie Juanita mir erzählt hatte. Clara war zwei Jahre älter als ihr Bruder, sie musste damals alles mitgekriegt haben.
Irgendwann sickerte Morgenlicht ins Dunkel des Zimmers. Die Sonne ging auf. Es war sechs Uhr.
Clara amüsierte sich köstlich, dass ich schon wieder duschen ging, tat es mir aber nach und fand es schön. Mein Vater untersuchte sie noch einmal. Zum Frühstück trafen wir Leandro. Elena schlief noch. Leandro und mein Vater gingen hinaus, um draußen am Zaun um die Festung der Mine eine Art Sprechzimmer aufzubauen, das aus einem Tisch und einem aufgehängten Tuch als Sichtschutz bestand und von Sicherheitsleuten bewacht wurde. Am späten Vormittag gesellte sich Elena zu uns. Wir gingen hinauf in die Suite ihres Vaters. Gegen Mittag kam Leandro ebenfalls herauf. Er brachte meinen Vater mit, der ziemlich desillusioniert war. Es waren weniger gekommen, als er erwartet hatte. Ein paar Männer hatten ihn konsultiert, aber sie hatten so schwere Leber- und Nierenschäden, dass sie sofort in ein Krankenhaus gemusst hätten, was sie rundheraus ablehnten. Eine Frau war bei ihm gewesen, die Rheuma in den
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