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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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die Hand zu geben.
    Clara lächelte. »Doch. Er hat sich von mir verabschiedet, als Tano mit seinen Reitern den Berg herabkam. Er hat mir das hier gegeben und mir gesagt, ich solle zum Hubschrauber reiten. Aber dann kamt ihr, dein Vater und du. Schau!«
    Sie gab mir die seltsame Kette. Die weiße Kugel war zwar hart, aber nicht so hart, dass man nicht mit einem Fingernagel eine Kerbe hätte hinterlassen können. Senkrecht zum Bohrloch war rundherum etwas in die Oberfläche eingeritzt worden. Es waren Buchstaben. Ich konnte auf den ersten Blick kein zusammenhängendes Wort erkennen, hatte auch das Gefühl, dass es mich vielleicht nichts anging, und reichte sie Clara zurück.
    Sie wehrte ab. »Ich kann zwar lesen, was da steht«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Weißt du es? Es sind Buchstaben. Dd-cric...«
    Ich musste lachen. »Es ist eine E-Mail-Adresse.« Sie lautete: [email protected]. »Es ist Damiáns E-Mail-Adresse.«
    Nun lachte Clara auch, aber sicherlich nicht wie ich darüber, dass auf einem solch urtümlichen Schmuckstück aus Gras und Kautschuk etwas so Modernes stand wie eine E-Mail-Adresse. Sie lachte mehr aus Scham.
    »Ich weiß«, sagte sie, »was eine E-Mail ist, aber ich habe das Zeichen nicht erkannt, das ›arroba‹.« So hieß das @ auf Spanisch.
    »Er möchte, dass du ihm per E-Mail berichtest, wie es dir geht«, stellte ich fest.
    Clara blickte mich etwas zweifelnd an.
    »In Bogotá«, erklärte ich, »gibt es überall Computer, von denen aus man E-Mails verschicken kann. Ich habe einen zu Hause, im Krankenhaus haben sie sicher auch welche, und es gibt Läden, wo man das tun kann. Ich zeige dir, wie das geht. Es ist das Einfachste von der Welt.«
    Clara umarmte mich völlig überraschend und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Davon habe ich immer geträumt!«, flüsterte sie.

de

– 26 –
     
    M itten in der Nacht wachte ich auf. Es war stockfinster. Clara röchelte im Bett neben mir, als würde jemand sie erwürgen. Einen Moment lag ich steif vor Angst, dann machte ich Licht. Erst einmal war ich erleichtert, dass niemand neben mir Clara erwürgte, aber dass sie röchelnd um Luft rang, war beunruhigend. Und ich bekam sie auch nicht wach.
    Ich rannte zur Zimmertür meines Vaters und klopfte, bis er aufwachte. Er kam mit seinem Notfallkoffer. Claras Zustand hatte sich nicht geändert, ihr Brustkorb hob und senkte sich im verzweifelten Bemühen, Luft zu kriegen, ihr Atem ging pfeifend, doch ihre Augen waren noch immer geschlossen.
    Mein Vater klopfte ihr auf die Backe und rief ihren Namen. Auf einmal schlug sie die Augen auf. Sie versuchte sich aufzurichten, aber ihr fehlte die Luft. Die Augen traten ihr vor Angst aus den Höhlen. Es war fürchterlich anzusehen.
    »Ganz ruhig!«, sagte mein Vater und half ihr, sich in eine sitzende Position aufzurichten. »Versuch auszuatmen. Nur ausatmen. Gleich geht es dir besser.«
    Er kramte in seinem Koffer, zog eine Spritze auf, desinfizierte eine Stelle an Claras Oberarm und injizierte den Inhalt. Obwohl ich ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, arbeitete er hellwach und konzentriert. Ob ich das jemals können würde?
    »Was hat sie denn?«, fragte ich.
    »Asthma«, antwortete mein Vater schlicht.
    Clara lächelte schon wieder und atmete bereits deutlich ruhiger. Sie berichtete, dass sie auch früher schon an Atemnot gelitten habe. Ihre Großmutter Juanita habe ihr dann immer Kaffeebohnen gegeben, die sie zerbeißen und schlucken musste.
    Mein Vater nickte anerkennend. »Stimmt. Starker Kaffee kann helfen.« Er erklärte ihr, wie das Asthmaspray funktionierte, das er dabeihatte. Dann ermahnte er mich, ihn sofort zu holen, falls es Clara wieder schlechter gehen sollte, was er allerdings nicht erwartete, und ließ uns allein. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Clara war hellwach, was auch an den Medikamenten lag. Und mir war der Schreck auch gehörig in die Glieder gefahren.
    Nebeneinander saßen wir auf den Betten, warteten auf den Sonnenaufgang und erzählten uns, wie wir bis jetzt gelebt hatten. Clara berichtete mit so viel Wärme von ihrem Leben bei ihrem Onkel und ihrer Tante mit den Cousinen, den Kindern, den Tieren, dass ich nicht verstand, warum sie es so dringend aufgeben wollte. Es schien ein Leben nach einem ruhigen Rhythmus gewesen zu sein, hart und arbeitsam, aber nicht trübsinnig. Seit sie denken konnte, hatten sie Tiere versorgt, Mais kultiviert, Lamas geschoren, Wolle verkauft und Pullover gestrickt. Sie

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