Der Ruf des Kolibris
mehr zu sagen.
»Es wird niemand gezwungen, hier zu arbeiten«, sagte Leandro, der unser Entsetzen spürte. Wie hätte er es auch verleugnen können? Jedem Menschen musste klar sein, dass es unmenschlich war, was hier geschah.
Und dennoch geschah es.
Warum? Warum machten Menschen so etwas mit? Für die paar Pesos, für den Traum vom großen Stein, den sie im Mund aus der Mine schmuggeln würden? Aber die allgemeine Not war nicht die Antwort. Viele hatte ich inzwischen gesehen, die sich irgendwie anders über die Runden brachten.
Und wie hielt Leandro das aus? Da oben in seiner Luxussuite im Hotel mit Blick auf die Barackenstadt der Guaqueros, die auf den Schlamm warteten, sein Geschenk an sie. Ein tückisches Geschenk, hielt es doch Zehntausende von Menschen in der Nähe der Mine unter dem grünen Fluch.
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– 27 –
S ieben Wochen Sommerferien lagen vor mir und ich sehnte bereits ihr Ende herbei. Unser Ausflug nach Popayán und in die Nebelberge des Cauca hatte nur sechs Tage gedauert. Was tun mit dem Rest Schulpause? Weder mein Vater noch meine Mutter hatten Urlaub. Elena lud mich zwar ein, mit ihr und ihren Eltern für vier Wochen an die Karibikküste zu fahren – sie hatten dort ein Ferienhaus direkt am Meer –, aber ich lehnte ab. Meine Eltern hätten nichts dagegen gehabt, aber ich wollte Clara nicht allein lassen. Sonne, Strand, Palmen und Meer, Drinks, Partys und Ausflüge mit der Jacht zu irgendwelchen Inseln passten auch nicht zu meiner Gemütslage. Im Grunde passte nichts. Ich war wie gelähmt. Nur die Besuche bei Clara waren ein Argument, morgens aufzustehen. Sonst wäre ich den ganzen Tag im Bett geblieben und erst aufgestanden, wenn meine Mutter aus dem Labor heimkam.
Clara lebte bei ihrer Großmutter Juanita im Waldhaus. Als Papa und ich sie dort ablieferten, schien die Alte mit den langen Zöpfen und dem Bowlerhut nicht sonderlich überrascht. Sie umarmte ihre Enkelin herzlich und bemerkte: »Jetzt wirst du gesund. Du bist schon gesund.«
Mein Vater war da skeptischer. Clara musste zunächst für ein paar Tage zur gründlichen Untersuchung ins Krankenhaus. Ich fuhr jeden Tag zu ihr. Als klar war, welche Medikamente sie bekommen musste, durfte sie nach Hause. Sie war so unbändig neugierig auf die neue Welt, in der sie sich befand, dass wir fast täglich Ausflüge unternahmen. Wir fuhren mit dem TransMilenio in andere Stadtteile. Wir besichtigten die engen Gassen von La Candelaria, dem Altstadtkern von Bogotá, gingen ins Goldmuseum, standen auf dem Plaza de Bolívar vor dem Rathaus und schlenderten durch die Einkaufspassagen. Ich zeigte Clara die weitläufigen Anlagen des Colegio Bogotano und wir besuchten den Campus der Staatlichen Universität, wo allerdings Semesterferien herrschten. Mit ihr zusammen traute ich mich auch in die Slums im Süden der Stadt, wovon ich meinen Eltern wiederum nichts erzählte. Auch zum Flughafen fuhren wir, Düsenjets angucken. Clara war die Existenz dieser Dinge bekannt, sie hatte vieles einfach nur noch nicht gesehen, etwa so wie ich aus Fernsehfilmen Kolibris, Tapire, Affen, Brillenbären oder Papageien kannte, sie aber in der Natur noch nie gesehen hatte. Ich freute mich über die Affen in den Bäumen, sie über die Hochhäuser, Busse und Schaufenster. Sie bewunderte den spiegelblank polierten Steinboden der Einkaufspassagen, die Abfalleimer und die Tatsache, dass man, wo auch immer man stand oder ging, etwas zu essen kaufen konnte. Sie sah und grüßte das Reinigungspersonal, wenn es dunkelhäutig war, all die Menschen, die hinter uns herwischten, uns bedienten, die unseren Dreck wegräumten und die wir normalerweise übersahen, und verwickelte sie in Gespräche. Ich erfuhr von so manchem Imbissverkäufer und mancher Klofrau, wo sie herkamen und wer ihre Eltern waren.
»So viele Menschen!«, stöhnte Clara manchmal.
»Und du kannst nicht mit allen sprechen«, bemerkte ich.
Sie lachte. Wo sie herkam, schaute man allen, denen man begegnete, in die Augen und wechselte mit ihnen ein paar Worte, denn es waren nicht viele, und man sah selten neue Gesichter.
Ich nahm sie auch mit zu uns nach Hause. Neidlos bestaunte sie mein Zimmer mit eigenem Bad. Sie bewunderte die Möbel im Salon und den Elektroherd, an dem Estrellecita kochte. Doch jedes Mal war sie wieder glücklich und erleichtert, wenn wir ins Waldhaus zurückkehrten, wo ein offenes Herdfeuer glomm und es für Juanita und Clara nur den einen Raum gab, um zu schlafen und zu essen, wo die Ziege
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