Der Ruf des Kolibris
verstehen«, sagte ich. »Du musst mir die Chance geben.«
Er lächelte leicht. Er durchschaute meinen Versuch und vielleicht empfand er genauso wie ich. Solange es noch etwas zu besprechen gab, solange noch nicht alles gesagt war, mussten wir uns wiedersehen, bestand Hoffnung.
»Und dann überlegen wir, wie wir es wiedergutmachen können«, sagte ich eifrig. »Wir müssen den Behörden sagen, wo die Geisel ist. Du kannst es wiedergutmachen.«
Er lachte hart. »Auf Verrat steht der Tod. Sie werden mich umbringen.«
»Wer, die Militärs?«
»Nein, die Organisation. Die Geisel ist seit einem Jahr nicht mehr in Tanos Besitz. Er hat sie an eine andere, viel größere Gruppe der FARC verkauft. Die Organisation bestraft jeden Verrat mit dem Tod. Ich dürfte bestenfalls hoffen, dass sie mich zuerst töten und ich nicht mit ansehen muss, wie sie Tante Maria, meine Cousinen Alejandra und Ana und deren Männer umbringen. Die Einzigen, die sie vielleicht am Leben lassen werden, sind die Kinder. Willst du das, Jasmin?« Sein Blick bohrte sich in meinen. »Wenn du das wirklich willst, dann tue ich es!«
Wie konnte ich das wollen? Nein, natürlich wollte ich das nicht! Aber ich konnte auch nicht einfach sagen: »Tu es nicht!« Das hätte mich zur Komplizin der Geiselnehmer gemacht. Ich hätte dazu beigetragen, dass Susanne Schuster vielleicht noch viele weitere Jahre in Geiselhaft litt, womöglich sogar starb.
Wie sollte ich die richtige Antwort finden, in den wenigen Minuten, die Damián und mir blieben in dem inzwischen taghellen Zimmer des El Refugio von San Andrés de Pisimbalá in den Nebelbergen von Kolumbien? Ich fand keine.
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– 36 –
D er Himmel war blau. Die Gipfel sahen aus, als hätte man ein Tuch aus samtigem Laub über sie geworfen. Die Ausgrabungsstätten von Tierradentro lagen nicht weit von San Andrés de Pisimbalá in einem ruhigen offenen Gelände. Hier und dort wuchsen geheimnisvolle steinerne Pfosten aus dem Boden, in denen man Arme, Beine und Köpfe erkannte, Gnome, die Wache zu halten schienen. Die Gräber befanden sich an Orten, die Loma de Segovia, Alto del Duende oder El Tablón hießen – Bergrücken von Segovia, Koboldhöhe oder Tafel. Manche Schächte waren bis zu sieben Meter in den Berg getrieben und besaßen zahlreiche Kammern, in denen einst die Urnen der Toten gestanden hatten. Die Wände waren weiß gefärbt und mit roten und schwarzen Mustern, geometrischen Fratzen und unverständlichen Zeichen bemalt.
»Als im sechzehnten Jahrhundert die spanische Eroberung begann«, erklärte uns der einheimische Fremdenführer, ein Nasa, »lebten hier die Páez oder Nasas, die damals im Krieg lagen mit ihren nördlichen Nachbarn, den Pijaos, und im Süden mit den Völkern der Yalcones und Timanaes. Doch nun verbündeten sich diese Gruppen, um den Spaniern entgegenzutreten. Die Kämpfe dauerten fast ein Jahrhundert und nur die Nasas überlebten. Die Eroberer fürchteten sie als wilde Krieger, die mit Lanzen, Pfeil und Bogen und Knüppeln kämpften.«
Der einheimische Führer machte seine Sache gut. Es war nicht nötig, dass ich Mrs Melroy irgendetwas über die Kultur der Nasas erzählte. Ich konnte mich ganz darauf konzentrieren, meine Fassung zu wahren.
Wir hatten uns nicht einmal mehr geküsst, Damián und ich, als Felicity noch einmal geklopft hatte, um mich zum Frühstück abzuholen. Wir hatten uns nur angeschaut, wie erschlagen von der Wahrheit, die uns für immer trennen würde. Weder er noch ich hatten die Hand heben können für eine letzte Berührung. Er hatte es gewollt, ich auch, aber etwas hatte uns gestoppt, eine Zange, in der wir steckten und aus der wir nicht herausfanden. Nicht in der kurzen Zeit.
Felicity hatte an die Tür geklopft, Damián hatte sich in die Ecke hinter die Tür gedrückt. Keine Sekunde zu früh, denn Felicity hatte sie geöffnet und hereingeschaut, lächelnd, ausgeschlafen, unternehmungslustig, frisch frisiert und geschminkt. Ich war, bevor sie womöglich ganz hereintrat und Damián entdeckte, auf sie zugestürzt – in Jacke und festen Schuhen, die ich die ganze Nacht nicht abgelegt hatte –, hatte sie auf den Gang gedrängt und die Tür zugezogen, ohne Damián noch einmal einen Blick zuwerfen zu können.
Er hatte mir die Frage nicht mehr beantwortet, ob wir uns am Abend wiedersehen würden. Durfte es so enden? Ganz ruhig!, sagte ich mir. Wir konnten uns auch in Bogotá treffen. Es musste nicht heute Abend hier sein.
Aber würde er mir die
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