Der Ruf des Kolibris
missbrauchen. Vielleicht ist Leandro nicht direkt für den Tod unserer beiden Politiker verantwortlich. Es gibt Leute, die für ihn die Drecksarbeit erledigen, oft ohne direkten Auftrag, einfach weil sie denken, dass man einen Gegner kurzerhand ermordet, statt mit ihm zu diskutieren. So behält Leandro immer eine weiße Weste, man kann ihn nicht erpressen, und man wird ihn nie vor Gericht stellen können, wenn wir eines Tages auch bei uns einen Rechtsstaat hinkriegen.«
Zwischen seinen Brauen stand wieder die steile Falte. Unvermittelt ließ er meine Hand los, die er so lange in den seinen gehalten hatte.
»Was ist?«, fragte ich.
Sein Ton war bitter. »Erinnerst du dich, was ich dich am Morgen auf der Weide von Yat Pacyte gefragt habe?«
Ich erinnerte mich gut. »Du hast mich gefragt, ob ich wüsste, wem ich mein Vertrauen schenke.«
»Ich wollte von dir wissen, ob du dich noch nicht gefragt hast, wie viel Blut an meinen Händen klebt.«
Ich erinnerte mich an meinen Schrecken und erschrak erneut. Er hatte mir erklärt, dass es richtig gewesen war, dass wir am Geröllhang plötzlich Angst vor ihm bekommen hatten. Ich müsse Angst vor ihm haben, hatte er mir gesagt. Ich müsse mich fragen, wie oft er getötet habe und noch töten werde in diesen Kämpfen im Namen der Revolution, bei denen es letztlich darum ging, wer in diesem Land sich die Schätze unter den Nagel reißen durfte, und bei denen die Indígenas immer den Kürzeren zogen.
»Wir alle«, sagte Damián leise, »die wir etwas erreichen wollen, was wir für eine Besserung der Verhältnisse halten, greifen immer wieder zu Mitteln, die nichts besser machen. Der Zweck heiligt die Mittel, sagt man. Aber das Einzige, was dabei herauskommt, ist Gewalt und Tod und Leid.« Er schaute mich an. Sein Blick war angespannt. »Und ich frage dich noch mal, Jasmin, was meinst du denn, wie viel ...«
»Die Antwort ist ganz einfach«, unterbrach ich ihn. »Du hast überhaupt kein Blut an deinen Händen, außer deinem eigenen. Sei nicht so dramatisch, bitte. Du wirst nie jemanden ermorden. Dazu bist du nicht fähig, Damián. Das weiß ich.«
Er schlang die Arme um mich. Sein Kuss schmeckte nach Liebe und Trauer, nach Verzweiflung und Entzücken. Viel zu schnell riss er sich los und sprang auf.
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– 35 –
E s wurde schnell heller im Fensterviereck des kleinen Zimmers im Hotel von San Andrés de Pisimbalá. In knapp zwei Stunden würden wir zu den unterirdischen Gräbern des geheimnisvollen Volks der Nasas aufbrechen, in denen man Abschied nahm von den Irrtümern des Lebens und sie zurückließ wie Tote. Damián stand am Fenster. Ich fröstelte, allein auf dem Bett.
Noch immer trug er die blaue Wetterjacke, deren Rascheln mich vor zwei Stunden geweckt hatte. Noch immer lag ich in Kleidern und Schuhen auf dem Bett, so wie ich mich am Abend hatte fallen lassen, halb tot vor Trauer und so kraftlos, dass ich geglaubt hatte, selbst zum Schlafen zu müde zu sein.
Irgendwo draußen sang ein Vogel, laut und traurig. Es war der einzige Ton, den man hörte.
»Damián!«, sagte ich. Meine Stimme klang klein und verzagt.
Er drehte sich um und lehnte sich gegen das Fensterbrett. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber so hell war es schon, dass die Kerze auf dem Nachttisch fahl und sinnlos wirkte.
»Das alles habe ich dir erzählt, Jasmin, damit du mich verstehst. Ich hätte dir schon viel früher von meinen Gedanken und Gefühlen erzählen sollen. Ich hätte nicht immer weglaufen dürfen. Stattdessen hätte ich mich auf unsere Tradition besinnen sollen. Wir erzählen uns lange Geschichten, wir haben viele Legenden und Sagen. Sie dienen dazu, dass wir verstehen, was wir fühlen.«
»Die Legende von der Liebe des Kolibris und des Bären zum Beispiel«, bemerkte ich.
Er schaute mich überrascht an. »Ach so«, fiel ihm dann ein. »Du hast ja angefangen, dir von Juanita unsere Legenden erzählen zu lassen und sie aufzuschreiben.«
»Diese hat mir Tano erzählt«, erklärte ich. »In Yat Wala. Ich bin beinahe gestorben vor Angst dabei. Sie endet fürchterlich.«
Damián nickte. »In gewisser Weise erzählt sie von uns, Jasmin.«
»Wir haben auch so eine alte Geschichte: Romeo und Julia .«
»Shakespeare, ich weiß.« Er strich sich über die Haare. Sein Blick ging ins Leere. Für eine Weile starrte er verloren vor sich hin, dann sah er auf und lächelte traurig. »Es sind uralte Wahrheiten, Jasmin. Wir können uns nicht gegen sie stellen.«
»Doch, wir
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