Der Ruf des Kolibris
Erklärung wirklich noch liefern, was ihn vor drei Jahren als Siebzehnjährigen bewogen hatte, den Handlanger für seinen Onkel Tano bei einer Entführung zu spielen? War nicht eigentlich alles gesagt? Würde er, unter dem Eindruck meiner blauäugigen Forderung, alles wiedergutzumachen, jetzt doch schnurstracks zur Polizei gehen, den Helden spielen und mir zuliebe Tano und den Aufenthaltsort der Geisel verraten? O Gott! Würde es dann wirklich zu diesem Gemetzel an seiner Familie kommen, das er befürchtete?
Mir war richtig schlecht vor Angst. Zum Frühstück brachte ich jedenfalls keinen Bissen herunter. Benommen stolperte ich danach mit der Gruppe mit. In Gräber hinein, aus ihnen heraus. Ins Museum, in die kleine weiße Indianerkirche.
Ich musste Damián sagen, dass er den Aufenthaltsort der Geisel niemandem zu verraten brauchte. Das konnte ich tun. Ich gehörte nicht dazu. Mich würde das Militär nicht in die Mangel nehmen, mich würde die Organisation nicht für den Verrat bestrafen. Ich würde Polizeischutz bekommen oder zur Not mit meinen Eltern das Land verlassen können.
Aber würde ihn das retten? Ich würde natürlich Fragen beantworten müssen. Zwar konnte ich wie schon dem Professor gegenüber behaupten, ich hätte jemanden bei Yat Wala vom Schwarzen Wasser reden hören, wo sich die Geisel befinden solle. Doch damit wären Damián und Clara nicht wirklich außen vor. Man würde bald wissen, dass mein Vater Clara Dagua behandelte. Man würde ahnen, woher ich meine Informationen tatsächlich hatte. Man würde nach Damián fahnden, das Militär würde Tano verfolgen, die Organisation würde Verrat wittern und alle töten. Vielleicht sogar auch mich!
Der Gedanke beruhigte mich plötzlich, so absurd das klingen mag. Es war fast leichter zu ertragen, wenn wir beide starben. Damián hatte recht gehabt. Ich würde immer Angst haben müssen, dass er getötet würde und ich übrig blieb. Für uns beide gab es keine Zukunft. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, bis mir der Kiefer wehtat, um nicht loszuheulen. Noch vor ein paar Stunden war ich voller Mut und Gewissheit gewesen, dass ich niemals zu demselben Schluss kommen würde wie er! Wie naiv war ich gewesen, wie blauäugig.
»Habe ich dich heute Morgen irgendwie gestört?«, erkundigte sich Felicity unvermittelt, als wir einen steinigen Weg durch das hellgrüne feuchte Tal gingen.
Ich brachte keinen Ton heraus, versuchte aber, den Kopf zu schütteln.
»Na, es war nur so ein Eindruck. Jedenfalls läufst du jetzt neben mir her wie ein Zombie.«
»Ich habe schlecht geschlafen.«
Sie musterte mich von der Seite. »Weißt du, als ich noch jung und hübsch war, war ich mal mit einem Schwarzen liiert. Er kam aus dem Kongo. Wir haben uns sehr geliebt. Er war wunderschön und ... gut im Bett!« Sie lachte. »Wir waren vier Jahre zusammen. Tja, was soll ich sagen? Es passte nicht. Er ging abends gern aus, sich mit seinen Kumpels im Pub treffen. Da wollte er mich nicht dabeihaben. In seiner Welt ging ein Mann alleine aus, während die Frau zu Hause in der Hütte auf ihn wartete. Wir haben nächtelang diskutiert, dann gestritten. Alleine losziehen war seine Idee von Entspannung. Meine nicht. Wir haben keine Lösung gefunden.«
Ich begann zuzuhören.
»Du denkst an nichts anderes als an Damián. Hab ich recht? Reden deine Eltern mit dir eigentlich über ihre Erfahrungen mit der Liebe, über ihre Irrtümer und Probleme? Vermutlich nicht. Die meisten Eltern meinen, ihre Kinder müssten nicht unbedingt wissen, dass es noch andere Männer und Frauen in ihrem Leben gab, vielleicht sogar die ganz große Liebe, aus der nichts geworden ist.«
Ich erschrak unwillkürlich. Hatte mein Vater vor meiner Mutter eine andere geliebt, vielleicht sogar noch mehr als meine Mutter? Und wie konnte er damit leben?
»Warum wollen sie nicht, dass wir das wissen?«, fragte ich.
»Ich habe keine Kinder, deshalb weiß ich es nicht so genau, Jasmin«, antwortete Felicity. »Aber sicher wollen Eltern ihre Kinder nicht verletzen.«
»Wieso verletzen?«
»Würde es dich nicht verletzen, wenn du erfahren würdest, dass deine Mutter einen anderen Mann viel mehr geliebt hat als deinen Vater und dass sie ihn nur geheiratet hat, weil sie mit dir schwanger war? Und dass du nicht geplant warst?«
Ich überlegte. »Manchmal glaube ich wirklich, dass ich nicht erwünscht war.«
»Oje!«, sagte Felicity. »Das musst du nicht denken. Kinder sind vielleicht manchmal nicht geplant, aber wenn sie
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