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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Jasmin.«
    Ich mochte ihn, wenn er so lächelte. Dann sah er aus wie ein Junge und zugleich klug und gelassen wie ein weiser Mann.
    »Und dir kann es doch nur recht sein«, fuhr er feixend fort. »So kommst du auf jeden Fall auf deinen Ball.«
    Wenn er gewusst hätte, wie egal mir das im Moment war! Ich hatte ganz andere Probleme. Ich musste über das Schicksal eines jungen Kolumbianers entscheiden.
    Ich stand vom Abendessen auf, sobald ich konnte, und setzte mich an den Computer in Papas Arbeitszimmer. Ich versuchte Vanessa in einer E-Mail alles zu erklären. Dann las ich den Brief noch mal durch und dachte, wenn meine Freundin in Deutschland das las, musste sie mir raten, Damián anzuzeigen. Sicher ist sicher. Zumindest mit der Schulleitung zu sprechen, damit sie ihn überprüfte. Ich schickte die Mail nicht ab. Was konnte mir Vanessa schon raten? Ich stellte auf einmal fest, dass sie für mich keine Bedeutung mehr hatte. Sie lebte ein anderes Leben. In Deutschland war jetzt tiefste Nacht.

de

– 5 –
     
    G leich am nächsten Tag gingen Elena und ich in der Shoppingmall von Bogotá Ballkleider kaufen. Die Mall war eine mehrstöckige, überdachte Einkaufsstraße, an deren gläsernen Eingangstüren in Kniehöhe kreisrunde Verbotsschilder klebten, auf denen eine Kamera, ein Getränk, ein Hamburger, ein Inlineskater, eine Pistole und ein deutscher Schäferhund abgebildet waren, alle durchgestrichen. Ich hatte längst aufgehört, über das Waffenverbotsschild zu lachen.
    Kleiderkaufen war für mich eher grausig. Elena jubelte zwar jedes Mal, ich sähe toll aus, aber ich sah nur meine runden Hüften und fand mich in jedem Kleid zu dick und zu groß. In meiner Größe gab es außerdem nicht viel Auswahl. Die Kolumbianerinnen waren alle kleiner als ich. Elena reichte mir auch nur bis zur Schulter. Sie war übrigens auch nicht gerade spindeldürr, sie hatte durchaus Hüften und Busen, aber sie wirkte dennoch zierlich, temperamentvoll, elegant und sehr spanisch, obwohl ihre Mutter Deutsche war. Das Kleid in Rot und Beige mit den Volants eines Flamenco-Rocks stand ihr total gut mit ihren schmalen Fesseln. Unter dem Kleid ein paar dezente Netzstrümpfe und Stilettos, das war’s.
    Aber ich? Oje! Egal, was ich anhatte, ich sah aus wie ein Konstanzer Bodenseemädel, das im nächsten Moment auf den Saum tappen und stolpern würde.
    Vanessa war in dieser Hinsicht besser gewesen, wenn wir zusammen einkaufen gingen. Sie war immer sofort taktlos herausgeplatzt mit ihrem: »Das macht einen total fetten Arsch.« Oder: »Das schlägt voll hässliche Falten.« Oder: »Das ist zu knapp am Busen.« Aber Elena sagte so etwas nicht. Sie schaute mich nur mit großen entsetzten Augen an und rief: »Wunderbar siehst du aus!«
    Ich war dicht davor, den Ball sausen zu lassen. Ehe ich wie eine Tomate im Hochzeitsgewand auflief, blieb ich lieber zu Hause. Die Blamage konnte ich mir sparen, von meinem Vater zu allem Überfluss auch noch dem kolumbianischen Präsidenten vorgestellt zu werden und beim Händeschütteln auf den Pumps umzuknicken und der Länge nach hinzuschlagen. Aber plötzlich näherte sich uns eine ältere Verkäuferin, die ich bisher noch nicht gesehen hatte. Sie kam aus den Tiefen des Ladens mit einem Kleid, das eigentlich nach nichts Besonderem aussah. Ein Stück Stoff in indianischen Farben mit violetten und roten ineinanderfließenden Streifen.
    Elena schaute gar nicht hin. Sie suchte schon nach einem Schal. Die Verkäuferin schob mich lächelnd in die Umkleidekabine und drückte mir das Kleid in die Hände. »Probier es. Es passt zu dir, hübsch wie du bist.«
    Ich war skeptisch. Aber tatsächlich war das Kleid wie für mich gemacht. Es bestand aus einem etwas groben, aber weich fließenden Webstoff und setzte sich zusammen aus einem Etuikleid und einem kurzen Bolero, der von meinem gebärfreudigen Becken ablenkte und meine Schultern betonte. Die Farben waren ziemlich folkloristisch, weshalb ich das Kleid nie selbst vom Kleiderständer gezogen hätte. Ich hätte auch nicht gedacht, dass meine rötlichblonden Haare und meine helle Haut zu den violett-roten Farben passten. Normalerweise trug ich Blau und Schwarz und Weiß. Aber aus dem Spiegel blickte mir auf einmal eine hübsche und lebenslustige Person entgegen, lächelnd mit leuchtenden blauen Augen und goldfarbenen Haaren.
    Elena war nicht begeistert. »Du siehst aus wie unsere Putzfrau Pepita«, sagte sie.
    Die Verkäuferin dagegen lächelte und brachte mir noch ein

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