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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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undiszipliniert und ein Macho.
    Zum Glück konnte Elena mir nicht lange böse sein. Und außerdem gab es aufregendere Dinge als ein Hausmeistergehilfe, nämlich den Diplomatenball am nächsten Tag. Alle redeten von nichts anderem. Zumindest diejenigen, deren Eltern eingeladen waren und die mitgehen durften. Das waren etwa zwei Drittel der Klasse C. In den anderen, den spanischsprachigen Klassen waren es vermutlich nicht so viele.
    Die britische Botschaft hatte für das Großereignis den Ballsaal und das Restaurant im dreißigsten und einunddreißigsten Stock des Bolívar-Hochhauses angemietet. Papa hatte nach längerer ironischer Streiterei, die meine Mutter schier in den Wahnsinn trieb, eingesehen, dass er sich einen Smoking leihen musste, weil der leicht vertrottelte Charme seines Vollbarts und seiner heilenden Hände allein nicht reichen würde, um den Briten und der anwesenden kolumbianischen Prominenz Respekt zu erweisen.
    Vormittags ging er noch einmal kurz in die Klinik, während wir Weiber uns aufstylten. Mama hatte für solche Gelegenheiten ein langes schwarzes Kleid, das ihre schmale Figur betonte. Sie fand es zeitlos, ich fand es ein bisschen altmodisch. Von ihrem Schmuck hatte sie nur die Perlenkette mitgenommen. Die Reiseführer hatten davon abgeraten, Reichtum zur Schau zu stellen. Sie sah blass und edel aus. Ihr dunkles Haar hatte sie hochgesteckt.
    Papa kam am späten Nachmittag nach Hause. Wir standen schon alle bereit, das Taxi wartete, da kam es noch einmal kurz zur Krise, als mein Vater sich eine Aktenmappe unter den Arm klemmte.
    »Was willst du denn damit?«, fragte Mama entgeistert.
    »Das sind die Unterlagen für mein Konzept für eine ambulante Versorgung der Slums.«
    »Papa!«, rief ich.
    »Du wirst doch die Leute heute Abend nicht mit Konzepten belästigen«, sagte Mama mahnend.
    »Nur deshalb gehen wir dorthin.«
    »Dann wirst du ohne mich gehen«, sagte Mama.
    »Aber ...«
    Meine Mutter drehte sich um und ging in ihr Zimmer.
    »Papa, bitte!«, flehte ich.
    »Also gut.« Mit unendlichem Bedauern trug er seine Unterlagen ins Arbeitszimmer zurück und ging Mama besänftigen. Dann endlich brachen wir auf. Mein Vater hakte sich zwischen uns beide, »seine beiden Hübschen«, und so gingen wir durch die Anlage zum Tor. Ich wollte es nicht, aber ich konnte nicht anders, als mich verstohlen umblicken, ob Damián in den Grünanlagen stand und mit der Schere Bananenstauden beschnitt. Er war nicht da. Enttäuschung verfinsterte meine Laune. Ich versuchte sie abzuschütteln.
    Aber die freudige Erregung, die auch mich in den letzten Tagen erfasst hatte, war plötzlich in sich zusammengefallen. Zum ersten Mal konnte ich nachvollziehen, wie mein Vater sich fühlte. Er mochte die Reichen nicht, er benutzte sie nur, um seine Ziele zu verfolgen. Er fühlte sich nicht wohl im Smoking und er würde sich die ganze Zeit langweilen. Allerdings würde er es sich nicht anmerken lassen, denn er konnte mit jedem reden. Aber ich sah ihm an, dass er nur auf den Moment wartete, wo er sich den Menschen nähern konnte, die ihm wichtig waren, dem Präsidenten, dem Bürgermeister, möglichen Spendern für seine Slumambulanz.
    Auch ich würde mich den ganzen Abend langweilen. So viel stand fest. Wir würden zwar ständig schwatzen, Elena, unsere Klassenkameradinnen und ich, und uns scheinbar prächtig unterhalten, aber im Grunde war es Zeitverschwendung. Alle Probleme, die wir hatten und emsig besprachen, waren banal und albern verglichen mit denen, die die meisten in diesem Land hatten: Hunger zum Beispiel. Fast schämte ich mich wegen meines teuren Kleids und der Feierlichkeit, mit der wir auf die Straße traten. Auf einmal war ich sogar froh, dass Damián mich nicht in diesem Aufzug gesehen hatte. Was musste er denken? Mit welchem Neid musste er uns betrachten? Er war Schüler am Colegio Bogotano gewesen und jetzt doch nur Hausmeistergehilfe und Gärtner. Mehr würde einer wie er nie erreichen.
     
    Am Eingang des Bolívar-Hochhauses lag sogar ein roter Teppich. Ein Dutzend Sicherheitskräfte bewachte den Aufmarsch der Konsuln, Minister und Magnaten mit ihren aufgehübschten Frauen, glitzernden Töchtern und schlaksigen Söhnen. Im Saal im dreißigsten Stock standen festlich gedeckte Tafeln. Kronleuchter funkelten von der Decke herab, polierter dunkler Marmorboden spiegelte jedes einzelne Licht. Obstkörbe und Blumenbouquets schmückten die Anrichten. Hundertschaften von Kellnern und Serviermädchen standen im

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