Der Ruf des Kolibris
Handtäschchen aus demselben Stoff und ein Paar flache Schuhe aus golddurchwirktem violettem Leinenstoff. Meine Mutter würde vermutlich aufschreien: »Diese Farben! Kind!«
Aber ich konnte mir nicht helfen, mir gefiel es. Ich gefiel mir. Es war, als wollte das Kleid mich haben. Der Stoff schmeichelte meiner Haut, die Farben spielten mit meinem Teint und verwandelten meine Haare in üppiges Goldblond. Das Kleid erfüllte meine Glieder mit Lust auf Tanz und Festlichkeit. In diesem Kleid würde ich zur Not sogar einen Laufsteg oder einen roten Teppich entlanggehen können, ohne zu stolpern.
»Ich nehme es!«, sagte ich. Der Preis, den mir die Verkäuferin nannte, war akzeptabel, auch wenn ich immer eine Weile brauchte, bis ich die Hunderttausende von Pesos in Euro umgerechnet hatte. Zwei Euro waren gut fünftausend Pesos wert. Aber in solchen Läden standen sowieso meist gleich Dollarpreise dabei.
Ich war zum ersten Mal nicht unzufrieden mit dem, was ich gekauft hatte. Es war kein Kompromiss zwischen Mode und meiner Figur, sondern es passte. Dennoch beschlich mich ein kleines seltsames Gefühl von schlechtem Gewissen, als wir mit Tüten und Taschen den Laden im ersten Stock verließen und auf die Galerie traten. Zuerst dachte ich, typisch Jasmin! Wenn ich mir etwas nicht zugestehen wollte, dann, dass ich hübsch war. Ich war es einfach gewöhnt, ein bisschen zu plump zu sein, nie wirklich scharf, zu sportlich, ein bisschen zu füllig und ziemlich öde. Damit konnte ich umgehen. Wenn Vanessa mir sagte, ich hätte zu dicke Schenkel, dann kränkte mich das nicht. Aber wenn mein Vater mir sagte, ich sei hübsch, oder wenn einer seiner Kollegen mir Komplimente machte, dann war mir das höllisch unangenehm. Sie logen doch nur, dachte ich, sie sagten mir nur was Nettes, um mich in Verlegenheit zu bringen. Außerdem fanden Männer sowieso alle jungen Frauen hübsch. Die sahen gar keine Unterschiede. Denen ging es auch nicht wirklich um mich. Unlängst war mir aufgefallen, dass manche älteren Kollegen von Papa mich anstarrten, als hätten sie mich schon ausgezogen. Vanessa gefiel so was, mir nicht. Es war ja auch gar nicht mein Ziel, den Jungs oder Männern zu gefallen. Ich wollte nicht geheiratet werden, ich wollte Ärztin werden.
Doch das Gefühl, mit dem ich jetzt meine Neuerwerbung für den Diplomatenball in der Einkaufstüte durch die Galerie trug, war nicht so sehr Ekel, Abscheu oder Ärger, es ähnelte eindeutig eher einem schlechten Gewissen. Aber was war es, was mich störte? Worum ging es? Warum war ich einerseits glücklich und andererseits beschämt? Durfte ich nicht glücklich sein?
Auf der Rolltreppe fiel es mir plötzlich ein, und ich fühlte, wie ich errötete und wie mein Atem schneller ging. Wird das Kleid Damián gefallen?, hatte ich gedacht. Ich hatte es mehrmals gedacht, als ich vor dem Spiegel stand, ich hatte mich mit Damiáns Augen betrachtet. Was würde einem Indio gefallen, der mit einer Alten zusammenlebte, die noch die alte Tracht trug? Wenn ich mich auf dem Ball in diesem Kleid präsentierte, dann zeigte ich ihm, dass ich mich für die Ureinwohner interessierte, für ihn, für seine Welt. Ich machte deutlich, dass ich in seine Welt wollte, die der bunten Farben. Ich hatte mich für ihn schön gemacht.
Mir wurde schwarz vor Augen. O Gott! Wie peinlich! Ich übersah das Ende der Rolltreppe und stolperte.
»Sag mal!«, kicherte Elena. »Was ist denn los?«
»Nichts. Ich überlege nur ...«
Ich würde das Kleid nicht anziehen können. So viel stand fest. Am besten, ich brachte es gleich zurück.
»Was überlegst du?«
»Ich überlege, ob ich das Kleid zurückbringe.«
Aber was würde die Verkäuferin sagen, die sich so viel Mühe gegeben hatte? Wie sollte ich ihr das erklären? »Es gefällt mir nicht« wäre eine Lüge gewesen, und sie wüsste es, denn sie hatte gesehen, wie ich mich anschaute und dass es mir gefiel. »Es ist mir zu teuer« ging auch nicht. Elenas Kleid hatte das Doppelte gekostet, und wir beide sahen nicht so aus, als könnten wir uns die Kleider nicht leisten. Elena hatte der Verkäuferin sogar erzählt, dass wir am Samstag auf den Diplomatenball gehen würden.
»Zurückbringen?«, fragte Elena nach. »Warum denn?«
»Du fandst doch auch, dass ich darin aussehe wie eure Pepita.«
»Du siehst gut aus darin. Du als Deutsche kannst so was tragen. Ich könnte es nicht, ich als Kolumbianerin. Aber du kannst das tragen.«
»Warum kannst du als Kolumbianerin so was nicht
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