Der Ruf des Kolibris
Träumen und Claras Träume waren keine bösen Träume. Auch ich habe es erst so gesehen wie du. Ich habe Tano erklärt, dass Clara nur gesund wird, wenn er sie mit der Deutschen ziehen lässt. Und wenn sie tot ist, nütze sie ihm auch nicht mehr als Strickerin. Doch wenn er sie ziehen lässt, kommt sie vielleicht zurück und bringt viele Geschenke und Reichtum. Tano sah es ein und sagte schließlich Ja.«
»Ach!«
»Es gelang Damián, die Deutsche in Popayán zu finden, eine Woche bevor sie nach Deutschland fliegen wollte. Doch zwei Tage bevor der Flug ging, bekam Clara schweres Fieber, Krämpfe, Atemnot und Schmerzen in Händen und Beinen. Wir mussten befürchten, dass sie die Reise nicht überleben würde. Ihr Geist wollte die Berge verlassen, ihr Körper nicht. Sie war innerlich zerrissen.«
»Und jetzt?«, erkundigte ich mich. »Als wir sie zu dir nach Bogotá brachten, hast du gesagt, sie sei gesund. Was hat sich geändert?«
Juanita lächelte. »Sie hat ihren Weg gefunden. Sie hat die Berge verlassen, aber nicht das Land, das ihre Heimat ist.«
»Sie hätte auch eine höhere Schule besuchen müssen.«
Juanita nickte. »Doch als die Deutsche die Gegend verließ, war Clara schon achtzehn Jahre alt. Da wird man bei der staatlichen Schule nicht mehr genommen. Außerdem war sie krank. Sie dachte nur an die Deutsche und an den Weg, den sie ihr gezeigt hatte. Sie war blind für jeden anderen Weg. Und eines Tages erzählte man sich, die Deutsche sei zurückgekommen. Sie habe sich ein Haus in San Andrés de Pisimbalá gekauft. Tano fluchte.«
»War sie denn wegen Clara zurückgekommen?«, fragte ich.
Juanita nickte. »Die Deutsche hatte sich in eine Idee verliebt. Sie war besessen von dem Gedanken, Clara zu retten und ihr zu einer besseren Zukunft verhelfen zu müssen. Es hätte auch ein anderes Indiomädchen sein können, aber nun war es eben Clara.«
Bei uns nannte man es das »Helfersyndrom«. Simon hatte es mir erklärt. Seiner Überzeugung nach hatten es Entwicklungshelfer. Sie berauschten sich an der Idee, Menschenleben zu retten und Zukunft zu schaffen. Dafür nahmen sie dann alle Entbehrungen in Kauf. Bei meinem Vater hatte Simon es auch diagnostiziert. Bei meiner Mutter dagegen nicht. Deshalb vertrug sie das Klima von Bogotá wohl immer noch nicht.
»Und so hat Tano einfach beschlossen«, fragte ich, »die Deutsche zu entführen?«
»Eigentlich wollte er sie töten.«
»Reizend! Und wieso hat er dann ...?«
»Damián hat vorgeschlagen, sie zu entführen.«
»Damit hat er Susanne das Leben gerettet!«
Juanita nickte. »Deshalb meinte er wohl, er hätte keine andere Wahl, als Tano bei ihrer Entführung zu helfen.«
»Hatte er denn eine?«
»Man hat immer eine andere Wahl«, antwortete Juanita. »Man muss nur die Seele reinigen von aller Angst, allem Hass und aller Feindseligkeit.«
»Er hätte Susanne warnen können!«, fiel mir ein.
»Das hat er versucht. Er hat sie besucht und ihr gesagt, sie müsse verschwinden. Es gebe Leute, die sie entführen wollten. Sie verlangte von ihm, dass er ihr Namen nenne oder zur Polizei gehe. Das konnte Damián nicht. Er hatte gerade sein Stipendium für das Colegio Bogotano zugesprochen bekommen. Die Schule hätte ihn nicht genommen, wenn sein Name oder der seines Onkels im Zusammenhang mit Entführungsplänen genannt worden wäre. Unsere Ortschaften waren – und sind immer noch – von Paramilitärs besetzt. Vermutlich fühlte die Deutsche sich sicher. Aber Tano und seine Leute brauchten bloß nach San Andrés de Pisimbalá zu ziehen und die Paras in ein Scharmützel zu verwickeln und so abzulenken. Ich sah Damiáns Unglück und warnte Tano. Ich sagte ihm, ich würde Yat Pacyte verlassen, wenn der Deutschen etwas geschähe. Aber Tano war so gefangen in seinem Hass und seiner Gier auf Lösegeld, dass er glaubte, er brauchte mich nicht mehr in seinem Haus. Und so geschah es, dass er mit seinen Leuten nach San Andrés de Pisimbalá zog. Damián eilte zu der Deutschen und erzählte ihr, die Schießerei gelte ihr. Diesmal ging sie mit ihm. Tano passte sie in den Bergen ab und nahm die Deutsche mit sich.«
»Aber dann hat Damián doch versucht, sie zu retten!«
»Aber es war so halbherzig durchgeführt«, sagte Juanita, »dass Tano Erfolg hatte. Ich glaube, Damián weiß bis heute nicht, was er damals wirklich gewollt hat. Ich habe Yat Pacyte noch am selben Tag verlassen.«
Juanitas Erzählung fachte meine Hoffnungen wieder an, dass Damián weniger schuldig
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