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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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sich von meinem gehetzten Ton anstecken zu lassen.
    »Ich habe einen Fehler gemacht«, erklärte ich. »Ich habe einen Professor an der Uni gefragt, ob er einen Ort namens Schwarzes Wasser kennt. Und jetzt denkt er, dort werde Susanne Schuster gefangen gehalten.«
    »Du glaubst also, dass Susanne Schuster am Schwarzen Wasser gefangen gehalten wird.«
    »Clara hat es mal erwähnt. Aber ich weiß, dass die Geisel vermutlich nicht mehr dort ist und ...« Ich stockte.
    »Und du glaubst, dass Damián etwas damit zu tun hat«, vollendete Juanita.
    Ich nickte. »Er hat es mir selbst gestanden.«
    Juanita schaute mich nachdenklich an. »Und warum kommst du zu mir? Möchtest du von mir wissen, ob das, was du glaubst, stimmt? Oder soll ich dir sagen, was du tun musst?«
    Ich nickte heftig. Genau das war es, was ich wollte: dass sie mir sagte, was die Wahrheit war und was ich damit anfangen sollte. Die törichte Hoffnung durchflutete mich, dass sie mit ihrem verschmitzten Goldzahnlächeln alles ungeschehen machen könnte: Damián hatte Susanne Schuster nicht entführt, hatte seinem Onkel nie geholfen, und es hing nicht von mir ab, ob sie litt, lebte oder starb.
    »Ich kann weder das eine noch das andere tun«, sagte Juanita. »Aber ich kann dir eine Reinigungszeremonie anbieten. Danach wirst du wissen, was richtig ist und was du tun kannst.«
    Das war nun gar nicht das, was ich erhofft hatte. Ich spürte leisen Ärger in mir aufsteigen.
    »Und Damián soll daran teilnehmen«, fuhr Juanita nachdenklich fort. »Er muss endlich seine Eitelkeit ablegen.«
    »Wie?« Ich verstand nichts. »Hier geht es doch nicht um Eitelkeit!«
    Die Alte kicherte gemütlich. »Damián ist ein bisschen eitel. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Er glaubt, alles hinge von ihm ab. Doch wenn er für alles die Verantwortung übernimmt, kann er nicht mehr handeln, dann zwingen ihn die anderen zu handeln.«
    Ich verstand nur Bahnhof. »Was willst du damit sagen, Juanita?«
    »Ich will damit sagen, dass es dumm und eitel ist, wenn man für etwas, was ein anderer tut, die Verantwortung übernimmt.«
    »Und das bedeutet ...« Ich verschluckte mich halb vor Aufregung. »... dass er die Verantwortung für eine Geiselnahme übernimmt, mit der er nichts zu tun hat?«
    Juanita schwieg auf die Art, die ich als Ja zu deuten gelernt hatte.
    »Warum tut er das?«
    »Jasmin, du hast es immer noch zu eilig.« Sie überlegte kurz, dann holte sie tief Luft und sagte: »Auch ich weiß nichts anderes, als dass Damián seinem Onkel Tano geholfen hat, Susanne zu entführen. Aber ich war nicht dabei.«
    »Und warum? Verdammt, warum?«
    »Weil er selbst ein Gefangener war.« Juanita blickte mich ernst an. »Er war damals kaum älter als du, Jasmin. Böse Träume beherrschten ihn des Nachts, und am Tag lebte er das harte Leben der Berge. Er ist mit dem Schmerz im Herzen aufgewachsen, dass sein Vater von den Paramilitärs erschossen wurde, als er sein Haus verteidigen wollte, und seine Mutter geschändet und erschlagen wurde vor seinen Augen und denen seiner Schwester. Clara erinnert sich, sie war damals fünf, aber Damián war drei, er hört das Geschrei nur in seinen Träumen. Ich war nicht im Dorf, als es geschah. Als ich einen Tag später aus dem Wald zurückkam, rauchten die Häuser nur noch. Das Gesumm der Fliegen lag in der Luft, Raben stritten sich im Flug, der Kondor kreiste am Himmel. Mit den Kindern bin ich zu meiner Tochter Maria nach Yat Pacyte gegangen. Hätte Damián bei seiner Begegnung mit der Bärin nicht verstanden, wie viel Kraft in der Ruhe liegt, so wäre er wohl völlig unter Tanos Macht geraten. Denn Tano erkannte Damiáns kindlichen Zorn und förderte ihn, er erzog ihn zum Kämpfer. Als er vierzehn Jahre alt war, schien Damiáns Leben entschieden, genau so wie das vieler anderer junger Männer meines Volks. Entweder er würde als Tagelöhner sein Geld verdienen oder auf Kriegs- und Beutezügen.«
    »Aber er hat Tano nicht gemocht. Tano hat ihn geschlagen«, warf ich ein. »Deshalb ist er weggelaufen.«
    Juanita lächelte fein. »Nein, Tano hat ihn nicht geschlagen und Damián ist nicht weggelaufen. Ich habe ihn zur Bärin geschickt. Damián war damals fünf Jahre alt. Er erinnert sich nur noch an das, was ich ihm später, als er älter war, erzählt habe.«
    »Und warum hast du ihm erzählt, dass Tano ihn geschlagen habe?«
    »Weil ich nicht wollte, dass Damián seinen Onkel bewundert. Tano ist ein gewalttätiger Mann mit großem Hass im Herzen. Er

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