Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
dem Getier, das bereits tot ist. Nur in der Not tötet er selbst.«
    Juanita nahm einen Schluck Canelazo und hustete ausführlich.
    »Ich bot Damián die große Reinigung an«, fuhr sie fort, »aber er zögerte. Er konnte nicht ganz lassen vom Glauben an die Macht der Waffen. Es ist nicht so einfach, Jasmin! Im Rückblick erscheint ein Weg oft klar, aber wenn man ihn geht, sieht man ihn nicht. So erging es Damián. Er ist mit der Gewalt aufgewachsen, mit dem Tod, der Trauer. Er wusste von der Kraft des gewaltfreien Widerstands in der Tradition der Nasas, aber er glaubte nicht wirklich daran. Es hat so viel blutigen Krieg gegeben in diesem Land. Wir wurden christianisiert, zerstreut und getötet. Über viele Jahrhunderte hinweg hatten wir Nasas unseren traditionellen Stab abgelegt und sind Cowboys, Guaqueros, Kokabauern und Tagelöhner geworden. Damián hat mir erst kürzlich erklärt, dass viele Männer von uns ihre Vorstellung von dem, was ein Indio ist, aus amerikanischen Western haben. Das Bild, das wir von uns selbst haben, ist nicht mehr unser eigenes, sondern das, was die Weißen von uns gezeichnet haben. Und die einfachste Lösung, auf die ein Mann verfällt, der sich ungerecht behandelt und benachteiligt fühlt, ist der Kampf. Der Kampf ist immer männlich. Und im Kampf zu sterben, ist nie verkehrt, vor allem dann nicht, wenn es für eine Sache ist, die man für eine gute Sache hält.«
    Juanita sah die Dinge ganz klar, schien mir.
    »Wir wissen nicht mehr, wer wir sind und wo unsere Stärken liegen. Damián wusste es damals nicht. Er wusste, er wollte Frieden stiften, er versuchte es, aber es gelang ihm oft nicht. Deshalb zweifelte er an sich. Wenn er in den Ferien nach Hause kam und wieder unter Tanos Einfluss stand, erwachte auch sein Hass wieder. Er zog mit Tano und seinen Leuten herum. Und dann, er war gerade sechzehn geworden, kam die Deutsche zu uns nach Yat Pacyte herauf und erklärte uns, dass sie Clara mit nach Deutschland nehmen wolle. Sie fand, Clara dürfe ihr Talent nicht verschenken. Sie müsse studieren. Sie sagte, uns würden daraus keine Kosten entstehen. Den Flug werde sie bezahlen, Clara werde auch bei ihr wohnen. Sie werde mit den deutschen Behörden alles klären.«
    »Das ist doch wie das große Los im Lotto«, bemerkte ich. »So eine Chance kommt nur einmal.«
    Juanita musterte mich nachdenklich. »Wie würdest du dich fühlen, wenn jemand zu deinen Eltern kommt und sagt: Ich nehme Ihre Tochter mit. Sie hat Besseres verdient. Sie wird in großem Reichtum leben?«
    Ich stutzte.
    »Wovon träumst du, Jasmin?«
    »Äh!« Ich wusste so schnell keine Antwort. Wovon hatte ich immer geträumt? Dass ich eine berühmte und gefeierte Schauspielerin wäre, dass mich ein Millionär mit Gestüt heiratete ... Das kam mir plötzlich alles kindisch und banal vor.
    »... würdest du, wenn dir jemand Glück verspricht, Ja sagen und deine Familie verlassen, ohne nachzudenken?«
    »Vermutlich nicht«, antwortete ich. »Aber das ist doch auch nicht vergleichbar. Ich habe im Prinzip alle Chancen.«
    »Glaubst du, wir würden unsere Heimat nicht lieben? Die Berge, in denen wir geboren wurden, die Menschen, mit denen wir aufwuchsen. Glaubst du, wir würden nicht zuallererst unser Glück hier suchen?«
    »Doch, das glaube ich schon, aber ...«
    »Du hast auf alles ein Aber, Jasmin«, bemerkte Juanita ein bisschen spöttisch.
    »Aber ...« Ich musste lachen. »Aber vermutlich wäre Clara nicht für alle Zeit fort gewesen, sondern nur für ein paar Jahre. Ihr hättet zumindest darüber nachdenken müssen.«
    »Das haben wir und Clara hat sich dagegen entschieden.«
    »Aber doch nur, weil Tano Nein gesagt hat!«
    »Vielleicht sagte Tano nur Nein, weil er spürte, dass Claras Angst zu groß war. Die Deutsche hat das nicht verstanden. Sie sagte harte Worte. Tano hat sie aufgefordert zu verschwinden. Am Tag darauf wurde Clara zum ersten Mal krank.«
    »Dann ist es ja klar!«, ereiferte ich mich. »Claras Krankheit hat damit zu tun, dass sie nicht das Leben führen darf, das sie sich wünscht.«
    Juanita schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist krank geworden, weil sie nicht Abschied nehmen konnte, weder von uns und den Bergen noch von ihren Träumen. Vor ihr lagen zwei Wege, die in zwei verschiedene Himmelsrichtungen führten. Tagsüber fütterte sie das Vieh und strickte Pullover, nachts träumte sie von Büchern und den fremden Wesen des tiefen dunklen Meeres. Eine Reinigungszeremonie reinigt nur von bösen

Weitere Kostenlose Bücher