Der Ruf des Kolibris
Hintergrund.
Von den Fenstern hatte man einen grandiosen Ausblick über die Siebenmillionenstadt mit ihren Hochhausnadeln im Meer erdfarbener Hausdächer, die im Dunst verschwammen. Wolken veranstalteten ihr tägliches Theater über dieser Stadt, an einer Stelle ballten sie sich dunkel, an einer anderen rissen sie auf und ließen den schrägen Strahl der Abendsonne auf ein Stadtviertel fallen. Und im Hintergrund immer die blauen Berge der Anden mit ihren unendlichen Urwäldern und Nebeln in den Tälern.
»Ja«, sagte plötzlich ein Mann, der zu mir ans Fenster getreten war, »dort im Dschungel hinter den blauen Bergen herrscht die FARC.«
Der Mann war jung, fast jugendlich noch, blond, blass, blauäugig und von schmaler Gestalt. Er sprach Spanisch mit starkem englischem Akzent, aber sehr korrekt. »Die FARC hält derzeit 26 Geiseln in ihrer Gewalt.«
»Oh!«, sagte ich. »So viele?«
»Manche befinden sich bereits seit vielen Jahren in Gefangenschaft. Zum Beispiel die Lehrerin aus Ihrem Land, Susanne Schuster. Sie ist seit drei Jahren verschwunden. Der Präsident von Venezuela hat sich sehr für sie eingesetzt, aber eine Befreiungsaktion im Februar ist im letzten Moment geplatzt.«
»Woher wissen Sie, dass ich Deutsche bin?«, fragte ich. »Sieht man mir das an?«
Der junge Mann lächelte. »Sie sind die Tochter von Dr. Markus Auweiler, nicht wahr? Das schließe ich daraus, dass Sie mit ihm und Ihrer Frau Mutter den Saal betreten haben. Darf ich mich vorstellen: John Green, Militärattaché an der britischen Botschaft.«
Sein Händedruck war nicht sonderlich fest.
»Wir kennen uns hier alle untereinander«, fuhr er lächelnd fort. »Eine kleine eingeschworene Gemeinschaft. Sie werden sie auch alle kennenlernen. Das da drüben ist Mrs Montafort, die mit dem hellgrünen Kleid und dem Hut, eine Britin, wie sie im Buche steht, Geschäftsführerin einer der größten Modeketten in Kolumbien, und der kleine Dicke neben ihr, das ist unser Botschafter, Sir Thomas Darell. Man sieht ihm an, dass Winston Churchill sein großes Vorbild ist. Für eine kubanische Zigarre würde er alles wagen, und no sports.«
John fuhr fort, mir die nach und nach in Smoking und raschelnden Kleidern eintreffenden Damen und Herren vorzustellen. Ich kam mir vor wie in der Welt eines Romans aus dem neunzehnten Jahrhundert, wo es noch Adlige gab, reiche Kaufleute und junge Mädchen, die zum ersten Mal in die Gesellschaft eingeführt wurden. Genau so ein Mädchen war ich, und John war mein Kavalier, der mich später um den ersten Tanz bitten würde. Danach kamen die Verwicklungen des Herzens. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass John mein Herz nicht ernsthaft in Gefahr bringen würde, auch wenn er mich mit seinem britischen Humor immer wieder zum Lachen brachte.
Ich stellte ihm meinen Vater vor. Er stellte meinen Vater dem britischen Botschafter vor. Ich präsentierte ihn meiner Freundin Elena, die endlich zusammen mit ihren Eltern eingetroffen war und mir nun auch zum ersten Mal ihren Vater vorstellen konnte. Leandro Perea war ein kleiner agiler Mann mit scharfem Blick und kräftigem Kinn, der sich natürlich gar nicht für mich, sondern weit mehr für meinen Vater interessierte. Womöglich hatte er ein gesundheitliches Problem, das er besprechen wollte, jedenfalls nahm er meinen Vater schnell beiseite. Elenas Mutter hatte ich schon ein paarmal gesehen. Sie war eine schmale Frau mit langem blondem Haar, die an Hals, Handgelenken und Fingern die in Gold gefassten, geheimnisvollen grünen Smaragde trug, die ihr Mann in seinen Minen förderte. Sie sah müde und gelangweilt aus. Wenn ich sie bei Elena daheim getroffen hatte, dann hatte sie kaum etwas gesagt und nie gelächelt. Wahrscheinlich würde ich auch trübsinnig werden, wenn ich mein Leben im Schutz von Bodyguards hinter Mauern mit Stacheldraht und Überwachungskameras verbringen müsste. Sie war einst ein Hippie gewesen, hatte Elena mir erzählt, bevor sie sich in den damals noch jungen und keineswegs reichen Abenteurer Leandro Perea verliebte, der dann Elenas Vater wurde.
Als wir uns zum Abendessen an die Tische begeben wollten, geschah, was mir immer passierte: das Missgeschick.
Die aufgeschossene Tochter eines Bankers trat unvermittelt einen Schritt zurück und stieß dabei einer Kellnerin den spitzen Ellbogen in die Rippen. Das Serviermädchen schrie auf und taumelte. Dabei verloren die Getränke auf dem Tablett das Gleichgewicht. Eine Mischung aus Sekt, Obstsaft und
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