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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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schwiegen. Aus dem Vestibül drang das Gemurmel der Leute. Gelegentlich Gelächter. Die Töne der Band wummerten aus dem Ballsaal herüber.
    Wir schauten uns nicht an. Wie gebannt starrten wir auf das Lämpchen, das anzeigte, dass der Fahrstuhl von unten heraufkam. Schließlich hielt er mit einem Pling. Die Tür öffnete sich, wir traten in die Kabine.
    In ihr standen schon zwei Personen, ein Mann und eine Frau, beide älter als wir, aber auch nicht so alt wie meine Eltern. Der Mann fuhr sich über die Haare, sie kicherte beschwipst und taumelte gegen ihn, als der Fahrstuhl anfuhr. Damián senkte den Blick, verkniff sich ein Lächeln. Er drückte den obersten Knopf und hob den Blick zur Stockwerkanzeige. An seinem Hals pochte eine Ader, ruhig, aber kräftig. Wangen und Kinn waren glatt rasiert und schimmerten wie bronzefarbener Satin. Seine Lippen waren einen Ton dunkler und bis in die Winkel deutlich und scharf gezeichnet. Die Wimpern seiner Augen waren lang und schwarz. Bei jedem Lidschlag schienen sich die Wimpern des Lids in den dichten Wimpern des Unterlids verfangen zu wollen. Sein Haar war, wie ich schon bemerkt hatte, erst gestern oder vorgestern kurz geschnitten worden und sehr dicht. In seinem Nacken lief es zu einem Wirbel zusammen, der ein kleines Fragezeichen formte.
    Plötzlich schoss sein Blick zu mir herüber und tauchte in meinen. So dunkle Augen hatte ich noch nie gesehen, sie glitzerten wie polierte Kohle und zuckten wie meine vermutlich auch, weil sie mal in mein linkes, dann in mein rechtes Auge schauten. Er hob die Hand, ich weiß nicht, um was zu tun, doch da stoppte der Fahrstuhl.
    Wir traten hinaus, wie gejagt von dem Pärchen, das offenbar auch die Aussicht genießen wollte. Sie knickste auf Stöckelschuhen an seinem Arm und kicherte.
    Wir und das Pärchen waren nicht die Einzigen im obersten Stockwerk, das eine jetzt halbdunkle und geschlossene Cafeteria beherbergte. Hier und dort standen in dunklen Gruppen Leute an den Fenstern. Andere kamen zurück zu den Fahrstühlen. Wir traten an die Fenster. Selbst von hier oben schien die Stadt endlos.
    »Fast sieben Millionen Menschen leben hier«, erklärte Damián. »Bogotá ist eine der Städte auf der Welt, die am schnellsten wachsen. Der Name kommt aus der Chibcha-Sprache, Bagatá, das heißt: hoch gelegenes Feld. Wir sind hier zweitausendsechshundert Meter hoch in der fruchtbaren Ebene Sabana de Bogotá, mitten in den Anden.«
    Ich nickte. Ich hatte es zwar in der Schule gelernt, aber ich genoss jedes Wort, das Damián in seiner ruhigen und bestimmten Art und mit leiser unaufdringlicher Stimme zu mir sagte.
    »Ungefähr dort«, er deutete in die Ferne, »liegt das Colegio Bogotano.«
    Während er mir Stadtteile und Gebäude nannte, wanderten wir von der Nordseite hinüber zur Südseite. Die Tische und Ablagen für Besteck und Geschirr reihten sich hinter einer Stellwand aus Holz, welche uns vom Rest des Saals abtrennte. Hier war es dunkler, sodass nichts den Blick auf das Lichtermeer störte, das sich zu unseren Füßen unübersehbar weit nach Süden ausdehnte. Wie leuchtende Adern durchzogen die großen Magistralen das Gebiet.
    »Die Eje Ambiental«, sagte Damián und deutete auf eine breite Straße, die sich im Licht zwischen den Hochhäusern fortschlängelte. »Dort ist der Campus der Staatlichen Universität.« Er blickte mich an. »Ich studiere Ökonomie.« Er zögerte etwas. »Na ja, ich will da, wo ich herkomme, eine ... eine Universität gründen. Bildung ist der Schlüssel zum Wohlstand. Und meine ... meine Leute ...«
    »Die Páez?«, fragte ich.
    »Wer hat dir das erzählt?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Páez, so nennen uns die Spanier. Wir selbst nennen uns Nasa. Die Provinz ›El Cauca‹, wo wir leben, ist die ärmste von ganz Kolumbien. Im Cauca leben die meisten indigenen Völker. Wir haben uns zusammengeschlossen zum Consejo Regional Indígena del Cauca, kurz CRIC. Der Regionalrat vergibt Stipendien, deshalb konnte ich hier in Bogotá aufs Colegio gehen. Die Rektorin hat mir freundlicherweise ein Praktikum angeboten, damit ich in den verschiedenen Abteilungen lernen kann, wie eine große Lehranstalt geführt und verwaltet werden muss.«
    »Ich will Ärztin werden«, sagte ich. Und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich es wirklich wollte. Und ich wusste plötzlich auch, warum: »Ich will später mal ... hier arbeiten. So wie mein Vater.«
    »Das ist gut«, sagte Damián mit einem Lächeln. »Dein Vater ist

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