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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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letzten Stunden. Nein, Damián stand nicht unter Generalverdacht. Schon gar nicht, weil er ein Indio war. Wie hatte ich ihn auch nur eine Sekunde lang für einen Dieb halten können? Er hatte mir meine Uhr doch sofort zurückgegeben. Bei erster Gelegenheit. Und was waren das für kranke Ideen gewesen, er sei auf dem Ball als Undercover-Revolutionär im Dienst der FARC unterwegs? Sogar Pläne für ein Attentat auf Präsident Uribe hatte ich ihm unterstellt! Ich musste von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Jeder Mensch ist unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils. Und jetzt stand er vor mir. Warum, wenn nicht, um sich meinen dummen und kindischen Vorwürfen zu stellen und sie zu entkräften? Immerhin fand er es wichtig, es zu tun und die Dinge richtigzustellen, mir, einer Deutschen, gegenüber, die ihm nichts bedeutete und deren Gefühle und Gedanken ihm völlig gleichgültig sein konnten.
    Ein eigenartig reserviertes Lächeln spielte auf seinen Lippen, ernst und zugleich amüsiert. Ich spürte, wie er Luft holte, um mir zu antworten.
    Da rief jemand: »Achtung!« Aus dem Augenwinkel sah ich drei Kellner aus dem Saal heraneilen und die Schleuse aus Stellwänden stürmen, beladen mit Stapeln von Tellern und Tabletts mit benutzten Gläsern auf dem Weg in die Küche. Ich musste beiseitespringen, wenn ich nicht über den Haufen gerannt werden wollte, und prallte gegen Damián.
    Ich spürte seine Hand zwischen meinen Schulterblättern, warm und kräftig, und die Härte seiner Brust unter den raschelnden Stoffen von Jackett und Hemd an meiner Schulter, die zuckenden Muskeln, den raschen Griff seiner Hand an meinen Ellbogen, um zu verhindern, dass ich das Gleichgewicht verlor. Ich atmete tief ein, atmete den Geruch von frischer Wäsche, der sich nach all den Stunden im Anzug mit einem Hauch von Schweiß mischte, der mir unendlich köstlich erschien. Es war ein berauschender, ein wilder und würziger Duft nach Dschungel und Zivilisation, den ich nie wieder in meinem Leben vergessen werde. Ich spürte, wie sich sein Brustkorb hob. Im nächsten Moment hatte er mich sanft von sich geschoben. Seine Augen blitzten, das Lächeln war von seinen Lippen verschwunden, ein Anflug von Bitterkeit zuckte in seinen Mundwinkeln. Er sah mich an. Ich dachte schon, er werde nichts mehr sagen, sondern sich einfach umdrehen und gehen, aber dann sagte er hastig und leise: »Wir gehen besser woanders hin.«
    Wohin denn?, fragte ich mich. Wo konnten wir hin in diesem Trubel? Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Was dachte ich denn da?
    »Komm!«, sagte er, drehte sich um und trat in den leeren, abgefressenen Speisesaal hinaus. Die Stadt glitzerte endlos in den Panoramafenstern, der Himmel war stockfinster, vermutlich bewölkt. Man sah die Magistralen im Lichtermeer ihre Kielspuren ziehen. Vermutlich war ich einen Moment stehen geblieben.
    »Von ganz oben hat man einen noch besseren Ausblick«, hörte ich Damián jedenfalls sagen. »Wenn du willst ... ?«
    Ich nickte nur.
    Ich dachte, wir würden den Fahrstuhl nie erreichen, so dicht war das Gewühl im Vestibül, oder ich würde vorher ohnmächtig werden. Und stets fürchtete ich, Elena mit John im Schlepptau würde uns in die Quere kommen mit ihrem lauten Geschrei und ihrem »Hier bist du ja, ich suche dich schon eine Ewigkeit!«. Und John würde darauf bestehen, dass man sich einander vorstellte. Ich würde den Namen meines Begleiters nennen müssen. »Das ist Damián Dagua!« Und Elena würde entweder schreien: »Der Dieb!«, oder sie würde verstummen und ihn vorwurfsvoll oder erschreckt anstarren. Solche oder andere Peinlichkeiten konnte ich jetzt gar nicht brauchen. Auch nicht meine Mutter, die mir am Kleid zippelte und mein Haar zu unordentlich fand, oder meinen Vater, der »Amüsierst du dich gut?« fragte. Und am schlimmsten wäre es gewesen, wenn Felicity Melroy mit ihrem spöttischen Lächeln uns gestoppt und bemerkt hätte: »Na, hast du doch noch einen gefunden. Na bitte, jetzt wird ja alles gut.«
    Nichts war gut. Doch noch nie in meinem Leben war ich so entschlossen gewesen, genau das zu wollen, hinzunehmen, was kam, furchtlos und zugleich voller Angst. Du bist wahnsinnig, sagte ich mir, und es war mir egal. Ich war wahnsinnig. Ich ging mit einem Mann mit, den ich nicht kannte. Und wenn er mich entführte? Verschleppte? Wenn ich jetzt den entscheidenden Fehler meines Lebens machte? Egal. Es musste sein. Es gab kein Zurück mehr!
    Damián drückte auf den Fahrstuhlknopf. Wir

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