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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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nur so, dass unsere Blicke sich trafen, ineinandertauchten, sich aneinander betranken. Seine Nasenflügel waren geweitet, seine Lippen halb geöffnet. So also war das, wenn man alles um sich herum vergaß, wenn die Welt verstummte und versank. Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Gewaltiger, ausschließlicher. Es machte, dass man alle Warnungen in den Wind schlug, sich auf nichts mehr besann. Gefahr? Vorsicht? Gesundes Misstrauen? Das waren Worte, die für mich nicht mehr galten, nie mehr gelten würden. Die Jasmin, die ich gekannt hatte, starb. Eine neue entstand und sie war völlig anders. Ich wusste nur noch nicht so genau, wie anders.
    Seine Lippen waren weich und warm und schmeckten ein wenig salzig. Seine Hände waren zart wie Spinnweben. Ich hielt still. Viel zu still. Seine Haare hätte ich anfassen wollen, mit dem Daumen seine Lippen nachziehen, fühlen, wie seine wunderbare Bronzehaut sich anfühlte, aber ich tat nichts dergleichen. Ich stand still und ließ mich küssen. Es war viel zu kurz.
    Er löste sich von mir, hielt meine Hände fest, die nach ihm fassen wollten, um noch mehr von ihm zu bekommen, und er sagte gequält: »Es geht nicht, Jasmin.«
    Der Schreck explodierte kalt in meinem Magen. »Warum nicht?«, fragte ich. »Was heißt das? Ist es, weil ich Deutsche bin und du Indio? Das stört mich nicht. Ich bin sechzehn! In anderthalb Jahren bin ich volljährig, dann können meine Eltern mir nichts mehr ...«
    »Langsam!« Ein Lächeln wider Willen huschte über seine Lippen. Machte er sich über meinen Eifer lustig? Hatte er mich nur geküsst, weil es sich so ergeben hatte, weil ich gerade vor ihm stand und es so offensichtlich gewollt hatte?
    Ich wollte mich von ihm losmachen, aber er hielt meine Hände fest. »Hör zu, Jasmin. Du musst wissen, ich bin ...«
    Weiter kam er nicht, denn mit Pling war auf der anderen Seite des Saals der Fahrstuhl angekommen, und mit Gelächter und Getöse enterten Leute den Saal. Hatte ich bis eben nichts mehr von meiner Umgebung wahrgenommen, so zeichnete sie sich jetzt umso schärfer und deutlicher ab. Obwohl wir uns hinter einer Stellwand befanden und vom Saal geschieden waren, konnte ich von meinem Standpunkt aus die Fahrstuhltüren sehen.
    Der Schrecken fuhr mir in die Glieder.
    »Elena!«, unterbrach ich Damián hastig. »Das ist Elena, die Tochter von Leandro Perea. Wahrscheinlich sucht sie mich!«
    Aber sie durfte mich nicht mit Damián sehen. Das war mir sonnenklar, wenn mir auch noch nicht so ganz klar war, warum ich das verhindern musste. Und sagen konnte ich das Damián so auch nicht. Das hätte geklungen, als schämte ich mich, von meiner Freundin mit einem Indio erwischt zu werden. Abgesehen davon, dass ich außerstande war, ihn wegzuschicken. Nicht jetzt! Nicht bevor wir das alberne Missverständnis geklärt hatten, das ihn dazu brachte, zu glauben, mit uns beiden, das gehe nicht.
    Aber was sollte ich tun? Wo sollten wir hin? Vom Saal aus konnten sie uns nicht sehen, aber wenn sie wie wir die Fenster entlangwanderten, würden sie uns in unserer Ecke aufstöbern. John Green war bei Elena, wenn ich richtig gesehen hatte, und noch zwei Leute, die ich nicht erkannt hatte oder nicht kannte. Deren lärmende Fröhlichkeit konnte ich jetzt ganz und gar nicht brauchen. Aber wo sollten wir uns verstecken? Hinter den Theken der dunklen Cafeteria?
    Damián nahm mir die Entscheidung ab. »Geh!«, sagte er leise.
    »Aber ich ...!«
    »Geh!« Und widerstrebend setzte er hinzu: »Ich ... ich melde mich bei dir!«
    Und wenn er das nur gesagt hatte, damit ich ging? Im nächsten Augenblick war ich hinter der Stellwand hervorgetreten und auf dem Weg durch den Saal zu der Gruppe der Neuankömmlinge. Ich hätte mich nicht wegschicken lassen dürfen, dachte ich, aber jetzt war es zu spät, um umzukehren. Elena hatte mich erblickt und winkte und rief. Auch John drehte sich um. Bei ihnen befanden sich auch unsere Väter, meiner und Leandro Perea. Sie waren bereits auf dem Weg zu den Fenstern. Perea erklärte mit großer Geste irgendetwas.
    »Hier steckst du also!«, rief Elena.
    Ich stolperte. Mir war hundeelend. John Green fasste mich am Ellbogen. »Geht’s?«
    Ich riss mich los, viel zu heftig. »Mir geht es gut.«
    Elena lachte. Sie war ziemlich beschwipst. »Ich habe dich gesucht. Ich hätte ja noch mal angerufen, aber dann dachte ich, vielleicht störe ich nur bei einem ... na ja!« Sie kicherte und blickte sich suchend um. »Wer ist es denn? Kenne

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