Der Ruf des Kolibris
mich schlagartig ziemlich klar im Kopf. Der Fahrer, ein junger Kerl, dem die halbe Hand fehlte, nickte mir freundlich zu. Auch er hatte Kokablätter in den Backen. Die Scheinwerfer fraßen die Straße. Büsche und Bäume huschten vorbei. Sterne standen am Himmel, wenn man ihn zwischen den Höhen sah. Es ging bereits bergab.
Popayán lag etwa tausend Meter tiefer als Bogotá, aber ebenfalls in einem Hochtal der Anden. Das hatte ich gelesen, als ich mein Referat über die alte Kolonialstadt schrieb. Und ich hatte mir alles, was diese Stadt betraf, genau gemerkt: Straßennamen, Plätze, Gebäude. Denn Popayán war die Stadt, in der zu leben ich mich vielleicht hätte entscheiden müssen, wenn Damián seine Universität gründete. Es hatte mich allerdings etwas irritiert, zu lesen, dass Popayán bereits eine Uni hatte. Popayán war mir inzwischen fast so vertraut, als wäre ich hundertmal an Damiáns Seite durch die Straßen und über die Plätze der weißen Stadt gelaufen und als hätten wir uns ein Dutzend Mal am Torre del Reloj verabredet, dem wuchtigen weißen Turm mit der Uhr neben der schneeweißen Kathedrale am Parque Caldas.
»Woher kennst du Damián?«, riss mich der Major aus meinen Gedanken.
So wenig wie möglich lügen!, dachte ich. »Er hat ein Praktikum an der Schule gemacht, in die ich gehe.«
»In Bogotá?«
Ich nickte. Wie genau wusste Antonio wohl Bescheid über Damián? »Da habe ich ihn kennengelernt. Aber wir kennen uns nicht sehr gut.«
Antonio zündete sich noch eine Zigarette an. »Und da fragt er dich, ob dein Vater seine Schwester heilen kann? Seine Großmutter ist eine weise Frau, sie soll schon viele geheilt haben, sagt man. Warum kann sie ihre Enkelin nicht heilen?«
Mir wurde kurz heiß und kalt. Stimmt! Das hatte ich nicht bedacht. Rief ein Indígena einen Schulmediziner zu Hilfe, wenn er eine Wunderheilerin in der Familie hatte, zu der in Bogotá die Leute pilgerten, die von keiner anderen Medizin mehr geheilt werden konnten?
»Mein Vater ist ... ist ... ist Arzt. Vielleicht muss man sie operieren.«
»Hm.«
»Kennst du Damián?«, fragte ich. »Und seine Schwester, Clara?«
»Seine Schwester kenne ich nicht.« Er wirkte auf einmal wortkarg. »Was hat Damián in Bogotá gemacht?«
»Studiert, glaube ich.«
»Und an dieser Schule? Ist er Lehrer?«
Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass ich jetzt nichts Falsches sagen durfte. Nur dass ich nicht wusste, was das Falsche war. In Antonios Fragen schwang ein gewisses Misstrauen mit oder so etwas wie Bitterkeit oder Zorn oder Neid. Es war schwer zu sagen. Ich spürte nur, dass er und Damián keine Freunde waren. Womöglich hatte ich uns doch keinen Gefallen getan, als ich den erstbesten Namen nannte, der mir einfiel, um unsere Fahrt nach Popayán zu erklären, nachdem Leandro Perea uns gewarnt hatte, etwas über unser wahres Reiseziel zu sagen.
»Nein, er hat dort gearbeitet, als Hausmeister«, erklärte ich. »Soviel ich weiß. Aber, wie gesagt ...«
»Wie gesagt, du kennst ihn nicht besonders gut«, ergänzte er mit spöttisch augenzwinkerndem Unterton. »Die Kokablätter sind gut, nicht wahr? Sie helfen!«
Ich nickte. »Ja. Sie machen wach. Das stimmt.«
Der Major lachte. In der Finsternis tauchte tief vor uns das Geglitzer einer Stadt auf. Ein fremdartiges Juwel in der gigantischen Finsternis der Berge.
»Popayán«, sagte Antonio. »Warst du schon mal dort?«
»Nein.« Ich begann, mich zu fragen, was der Guerillero mit der Narbe im Gesicht von mir wollte. Aber vielleicht wollte er sich wirklich einfach nur ein bisschen mit mir unterhalten.
»Du bist ein mutiges Mädchen. Das habe ich gleich gesehen.«
Mir gefiel sein Ton immer weniger. »Es ist schade«, sagte ich, »dass man Mut haben muss, hier in diesem Land.«
»Wir haben uns das nicht ausgesucht«, antwortete Antonio ernst. »Hätte es die Ausbeutung der Bauern durch die Großgrundbesitzer nicht gegeben und hätte die Regierung nicht Bürger zweiter Klasse geschaffen, dann hätte es uns niemals geben müssen. Wir haben den Frieden gesucht, aber die Konservativen wollen keinen Frieden mit uns. Wir wollten am demokratischen Prozess teilnehmen, wir haben Kandidaten für die Wahlen aufgestellt, aber die Armee hat Tausende unserer Politiker ermordet. Die Regierung will keinen Frieden mit uns.«
»Wollt ihr denn wirklich Frieden?«
»Wir wollen Lösungen auf politischer Ebene. Wir wollen, dass die Armee nicht mehr gegen die Bevölkerung vorgeht, wir wollen
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