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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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zu Blüte. So nahe war ich dem Urwald bisher noch nicht gekommen. Immer waren Fensterscheiben eines Autos zwischen mir und dem tropischen Hochwald gewesen. Auf dem Pferd kam man der Natur dagegen sehr nahe, näher als ein Fußgänger. Denn Wildtiere fürchteten sich nicht vor Pferden.
    Die unheimlichen Töne von Brüllaffen hörte man kilometerweit. Papageien flogen in bunten Schwärmen auf. Insekten sirrten in der Luft. Einmal meinte ich sogar zu sehen, wie ein Tapir sich ins Unterholz verdrückte. Vielleicht war es auch eine Täuschung, ich hatte keine Ahnung, ob es hier Tapire gab. Immer wieder hatte ich gelesen, dass Kolumbien eine der artenreichsten Gegenden der Welt war. Hier gab es Tiere, die noch niemand entdeckt hatte, und vor allem Pflanzen, deren Nutzen für die Medizin bestenfalls einheimische Medizinmänner kannten.
    Als wir nach einigen Stunden eine kleine Hochebene erreichten, auf der wilde Lamas grasten, blickte Damián sich um, zügelte sein Pferd, ließ meinen Vater vorbei und schwenkte an meine Seite.
    »Alles okay?«, erkundigte er sich.
    »Ja, und bei dir?«
    Er lächelte. Alle Härte, Müdigkeit und Bitterkeit waren aus seinem Gesicht verschwunden. Sein hartes Stadtgesicht, so schien mir, hatte ich in Bogotá auf dem Ball und in Popayán zu sehen bekommen. Aber er hatte noch ein Gesicht, ein weiches mit wachem Blick und entspannten Lippen, auf denen ein natürliches Lächeln lag. Er ritt einen Braunen, der mehr Temperament hatte, als er momentan zeigte. Auch wenn Damián nicht schulmäßig auf dem Pferd saß, sondern ziemlich locker mit durchhängenden Zügeln, sah man, dass er vermutlich früher reiten als laufen gelernt hatte. Die Bewegungen des Pferdes und seine waren eins. Er dirigierte es, anders als Elena und ich, nur mit Gewichtsverlagerungen, also nur mit dem punktgenauen Druck seines Gesäßes und seiner Schenkel, nicht mit dem Zügel.
    »Du hast doch gar nicht geschlafen, diese Nacht«, bemerkte ich.
    Er winkte ab.
    »Ja, ja, Kokablätter schaffen wahre Wunder«, bemerkte ich grinsend. »Hast du welche dabei?«
    Er zog die Brauen hoch und griff sich unter den Regenponcho. »Willst du?« Auf seiner Hand lagen fünf Blätter. Sie waren weißlich bestäubt.
    »Kalk«, erklärte er. »Das setzt die Substanzen frei. Kokablätter enthalten viele Vitamine und Kalzium. Heute essen wir auch Milchprodukte, aber früher waren Kokablätter als Kalziumquelle sehr wichtig.«
    Ich nahm die Blätter.
    Er lächelte. Dann drehte er sich zu Elena und Leandro um, die nebeneinander ritten, weil der Weg gerade breit genug war, und bot ihnen auch welche an. Beide griffen zu.
    »Und dein Vater?«, fragte Damián mich leise, als er wieder neben mir ritt.
    Ich grinste. »Keine Ahnung. Probier’s.«
    Er schickte sein Pferd vor zu meinem Vater, dem, wie ich an seiner etwas gequälten Haltung sah, vermutlich der Hintern wehtat. Er war es nicht gewöhnt, stundenlang in einem knochenharten Sattel auf einem Pferd zu sitzen.
    Ich sah die beiden Männer auf den Pferden vor mir, Schulter an Schulter, einen grauen und einen schwarzen Kopf. Mein Vater, den ich bislang für einen großen Mann gehalten hatte, wirkte schmal und schmächtig neben dem muskulösen und breitschultrigen Damián, der soeben die Hand hinüberstreckte. Ich sah, wie mein Vater erst seinen grauen Kopf schüttelte, dann aber doch zugriff. Damián erklärte ihm etwas, vermutlich, wie man sich die Blätter entweder in die Backe schob oder sie zu einer Kugel biss und unter die Zunge legte. Mein Vater steckte sich die Blätter in den Mund. Damián ließ sein Pferd wieder zu mir zurückfallen.
    »Und?«, fragte ich, »hast du ihm auch gesagt, dass er die Blätter später nicht auf den Boden spucken darf, um Pachamama nicht zu kränken?«
    Damián schüttelte den Kopf. »Für deinen Vater hat das keine Bedeutung, er glaubt nicht an Pachamama. Und sie lässt sich nicht kränken von einem Fremden, der die Regeln nicht kennt. Sonst hätte sie schon viele von ihrem Boden vertreiben müssen. Und außerdem, wo will man hier mit ausgelutschten Kokablättern sonst hin? Hm?« Er grinste.
    »Du glaubst nicht an Pachamama?«
    »Was heißt glauben? Ich bin christlich erzogen. Wir sind von den spanischen Eroberern christianisiert worden. Popayán ist sogar ein Zentrum des katholischen Glaubens. Die Kenntnisse der Naturreligionen sind alle verloren gegangen.«
    »Aber deine Mama Lula Juanita ...«, widersprach ich.
    »Juanita weiß viel, das stimmt. Sie ist aber auch

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