Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
ihr Leben lang herumgereist und hat alles gesammelt, was an Wissen über unsere Götter, die Heilkräfte der Pflanzen und die weiße, graue und schwarze Magie hier und dort noch bekannt ist. Gleichzeitig kann sie sich problemlos in unser heutiges Leben mit Autos und Handys einfügen. Mir fällt es dagegen schwer, mich in ihre Welt, die alte Welt, zurückzuversetzen. Aber ich teile mit ihr die große Achtung, die wir traditionsgemäß vor der Natur und ihren Erscheinungen haben.«
    Klar, Damián war kein Urwaldindianer, der sich mit Kokablättern in Trance versetzte und ums Feuer tanzte.
    Schweigend ritten wir eine Weile nebeneinander her. Mir genügte es vollauf, Damián dicht neben mir zu spüren, seine Bewegungen, seinen Atem. Aus dem Augenwinkel sah ich seine Hand, die den Zügel hielt. Noch vor einer Woche hatte ich nicht zu hoffen gewagt, dass ich ein, zwei oder drei Tage zusammen mit ihm vor mir haben würde.
    »Wie alt bist du eigentlich?«, fragte ich.
    »Zwanzig.«
    »Und du bist hier irgendwo aufgewachsen?«
    Damián nickte kurz angebunden und streckte die Hand aus. »Schau, ein Kolibri!«
    Ich sah den kleinen Smaragd von Blüte zu Blüte schwirren, kaum größer als ein Schmetterling. Er blieb immer mehrere Sekunden unterhalb einer Blüte in der Luft stehen, trank den Honig und schoss dann zur nächsten weiter. Sein Flügelschlag war so schnell, dass man nur ein grünes Rauschen sah. Zuweilen schillerte das grüne Gefieder urplötzlich rubinrot.
    »Der kleinste der Kolibris«, erläuterte Damián mir, »wiegt nur anderthalb Gramm. Er ist der kleinste Warmblüter, den es gibt. Sein Herz schlägt mehrere hundert Mal in der Minute. Nachts, wenn sie nicht fressen können, fallen die Kolibris in eine Starre, das Herz schlägt nur noch vierzig Mal. Sie müssen ihren Stoffwechsel drosseln, damit sie in den sechs langen Stunden der Nacht nicht verhungern. Kolibris sind die buntesten Vögel der Welt. Sie benutzen ihre Farben, um Konkurrenten zu vertreiben. Jede Blüte hat ihren speziellen Kolibri, den sie mit Honig versorgt. Dafür bestäubt er sie. Es ist eine perfekte Verbindung. Blüte und Vogel können nicht ohneeinander.«
    Sein Blick traf mich.
    Wahrscheinlich schoss mir das Blut ins Gesicht. Ich hatte in der Tat sofort an uns gedacht. War ich die Blüte, er der Kolibri? Nichts dergleichen, sagte ich mir, wir konnten sehr wohl ohneeinander leben. Wir waren nicht aufeinander angewiesen, um zu überleben. Das war Kitsch. Und dennoch sah ich den fliegenden Smaragd an der roten Blüte noch lange vor mir.
    »Bei euch gibt es keine Kolibris, nicht wahr?«, fragte Damián.
    »Nein. Wir haben Bienen.«
    »Hier gibt es auch Pflanzen, die von Insekten bestäubt werden, aber es regnet oft oder der Nebel hängt in den Bäumen. Dann können Insekten nicht fliegen. Kolibris aber fliegen immer. Deshalb haben sich viele Pflanzen einen Warmblüter als Bestäuber gewählt. Das Leben findet immer einen Weg.«
    Auch dieser Satz fiel mir tief in die Seele. Warum sollte es nicht auch für uns einen Weg geben, für Damián und mich, wenn wir nur intensiv genug danach suchten? Hatte er das sagen wollen?
    Diesmal begegnete ich seinem dunklen, prüfenden Blick nicht. Er hatte die Augen an den Rücken meines Vaters geheftet, der auf dem Sattel eine bequemere Position suchte. Armer Papa!
    Ich fasste Mut. »Müssen wir nicht fürchten, dass Antonio uns hier irgendwo auflauert? Er weiß doch, wo wir hinwollen.«
    Ein Schatten fiel auf Damiáns Gesicht. Ich bereute meine Frage sofort.
    »Nein«, antwortete er knapp. »Hier herauf wird er sich nicht wagen. Außerdem muss er ...« Er schluckte trocken. »Er muss seine Leute erst wieder sammeln.« Er warf einen kurzen Blick in den Himmel und suchte nach dem hellen Fleck, den die Sonne in die Wolken bohrte. »Wir liegen gut in der Zeit«, verkündete er dann. »Ich glaube, wir sollten deinem Vater eine Pause gönnen.«
    Er trieb sein Pferd nach vorn neben das meines Vaters.
    Gab es denn nichts, worüber Damián und ich sprechen konnten, ohne dass er die Flucht ergriff?, fragte ich mich. Doch ja, über Kolibris und Kokablätter konnten wir reden, über Pflanzen und Tiere. Das schwirrende Glück in meinem Magen verwandelte sich in einen schweren Stein.
    Wir hielten und stiegen ab.
    Mein Vater rieb sich den Hintern und stöhnte. »Diese Kokablätter sind ja ein Teufelszeug!«, sagte er dennoch vergnügt. »Hätte ich nie gedacht. Sie machen richtig wach!« Er blinzelte mir zu. »Aber das

Weitere Kostenlose Bücher