Der Ruf des Kolibris
verraten wir Mama lieber nicht.«
Und weil die Blätter auch den Hunger nahmen, dachte niemand von uns daran, dass wir nichts zu essen dabeihatten. Nicht einmal eine Flasche Wasser. Meine Mutter hätte uns ausgeschimpft. Sie ließ mich nicht in die Schule, ohne mir eine Flasche Wasser in die Schultasche zu stecken, obwohl man im Colegio an jeder Ecke etwas zu trinken kaufen konnte.
Leandro rauchte eine Zigarette. Damián verschwand kurz im Gebüsch und kam mit einer Handvoll grünlicher Beeren wieder, die er zuerst Elena und mir anbot.
»Was ist das?«, fragte Elena.
»Ich kenne nur den indianischen Namen«, antwortete Damián. »Übersetzt bedeutet er so etwas wie Früchte des guten Geruchs oder so ähnlich. Wer sie regelmäßig isst, ist gegen Mückenstiche geschützt.«
Das wiederum interessierte meinen Vater. »Unten im Caucatal gibt es Mücken, die das Denguefieber verbreiten, nicht wahr? Diese Früchte produzieren über den Stoffwechsel vermutlich einen Duftstoff, der die Mücken vertreibt.«
»Vermutlich«, sagte Damián. »Man wird weniger gestochen.«
Ich nahm ein paar Beeren und kostete. Sie schmeckten leicht bitter und entfalteten dann eine honigartige Süße.
»Wie oft hattest du schon das Denguefieber?«, erkundigte sich mein Vater.
Damián zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Als Kind einige Male.«
»Man kann es vier Mal bekommen«, erklärte uns mein Vater. »Dann ist man gegen die vier Dengue-Virenstämme immun.«
»Es sei denn, man stirbt!«, rief Elena vorwurfsvoll.
»Ach was, die Mortalitätsrate liegt nur bei fünf Prozent«, antwortete mein Vater. »Man sollte nur auf keinen Fall Aspirin nehmen, wegen der inneren Blutungen.«
Elena schüttelte sich. »Hört auf. Ich glaube, mich hat gerade eine Mücke gestochen! Helfen die Beeren auch nachträglich?«
Wir lachten.
Noch nie hatte ich Damián bisher so heiter und entspannt gesehen. Er wirkte jungenhaft, wie er so zwischen uns stand, mit den Beeren auf dem Handteller, und lachte.
Mein Vater wickelte eine der Beeren in sein Taschentuch und verwahrte es in der Jackentasche, um die Pflanze später bestimmen und auf ihre Wirkstoffe untersuchen zu lassen.
»Ihr habt hier ungeheure Schätze«, bemerkte er. »Wer weiß, vielleicht steckt in einer der Pflanzen das Medikament gegen Krebs oder Tuberkulose. Und Leandro, ihr seid so blöd und buddelt nach Smaragden ... Nichts für ungut, aber ...«
Der Gran Guaquero nickte freundlich. »Wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, Pharmazie zu studieren, würde ich vermutlich nicht nach Smaragden graben.«
»Deshalb werden ausländische Firmen unseren Urwald durchpflügen und Milliarden verdienen«, bemerkte Damián mit einem Anflug von Aggressivität. »Und die Medikamente, die sie finden, werden sich meine Leute nie leisten können.«
»Warum so mutlos?«, antwortete mein Vater. »Ihr müsst dafür sorgen, dass ihr selbst es seid, die hier forscht. Ihr habt doch Universitäten. Ihr könnt selbst Firmen gründen.«
Damián ließ die Augen nachdenklich auf meinem Vater ruhen.
Ich war auf einmal stolz auf meinen Papa. Man unterschätzte ihn leicht. Er wirkte immer so freundlich und harmlos mit seinem grauen Bart und seinen lieben grauen Augen, aber er durchschaute mehr, als man ihm zutraute. Das müsse er auch, wenn er bei Kranken die richtige Diagnose stellen wolle, behauptete er immer. Und gerade war er im Stillen dabei, seine Diagnose über Damián zu stellen, den Jungen, von dem ich vor drei Wochen zornig erklärt hatte, dass er der Mann sei, den ich heiraten wollte. Hätte ich das doch nie gesagt! Natürlich war meinem Vater sonnenklar, was hier lief. Vermutlich hatte er mir längst angesehen, dass ich nicht so vorankam, wie ich es mir erhofft hatte. Und nun versuchte er, den jungen Mann aus der Reserve zu locken. Zumindest testete er Damián ein bisschen, wie es sich für einen Vater gehörte.
»Reiten wir weiter!«, sagte Leandro.
»Oje!«, stöhnte mein Vater. »Mir tut alles weh. Ob ich je wieder aufs Pferd komme, weiß ich nicht.«
Leandro half ihm hoch.
Damián setzte sich wieder an die Spitze, Leandro bildete mit dem Packpferd die Nachhut und Elena kam neben mich.
»Da läuft doch was zwischen Damián und dir«, bemerkte sie.
»Nein!«, sagte ich.
Sie lachte. »Wie er dich anguckt. Hast du das gesehen?«
»Ich habe blaue Augen. Deshalb guckt er mich an.«
»So, so! Und du?«
»Was ist mit mir?«
»Du hast dich doch total in ihn verknallt! Das hat sogar dein
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