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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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»dass dir entgangen ist, wie total gut er aussieht, eh?«
    »Na, so viel hat man ja nun nicht gesehen.«
    Ich versuchte, den lockeren Ton anzuschlagen, den solche Gespräche hatten, die Vanessa und ich Kichergespräche genannt hatten. Jetzt wusste ich, dass Vanessa niemals ernsthaft verliebt gewesen sein konnte, wenn es ihr Spaß gemacht hatte, mit mir oder anderen Küsse und Körper eines total süßen Typs zu besprechen. Sie hatte mir sogar von ihrem ersten Mal mit Steffen erzählt, gleich danach, brühwarm. Sie hatte in der Badewanne gesessen und mit mir telefoniert. Es erschien mir inzwischen ganz und gar unmöglich, wenn man wirklich liebte. In meinem Fall wäre das eine Sache nur zwischen Damián und mir gewesen. Dessen war ich mir sicher.
    Um Elenas Neugierde zu entkommen, ließ ich mein Pferd zurückfallen und setzte es neben Clara.
    Die Schmerzmittel taten ihr gut. Sie wirkte vergnügt und wollte wissen, wie es bei uns in Deutschland war. An ihren Fragen erkannte ich, dass Susanne ihr und den anderen Schülerinnen viel erzählt hatte von Jahreszeiten mit Schnee und Eis oder Sonne und Hitze, von Frühling und Herbst, von unseren Dörfern mit Steinhäusern, von Unmengen Autos auf den Straßen. Clara wusste, welche Nutzpflanzen wir anbauten und was wir hauptsächlich aßen. »Ihr esst viel Brot«, sagte sie. »Ganz viele verschiedene Sorten, dunkles Brot.« Fast alle meine Antworten dienten ihr zur Bestätigung dessen, was sie schon wusste.
    »Wo aus Deutschland kam Susanne her?«, erkundigte ich mich. Ich hatte bei den Gesprächen über die Entführte nie genau genug hingehört, um mir das gemerkt zu haben.
    »Aus Berlin«, antwortete Clara. »Hier hat sie sich Susanne Zapatero genannt. Sie hat mir erklärt, dass so Schuster auf Spanisch heißt.«
    Auch für Clara war der deutsche Name schwer auszusprechen. Spanischsprachige Zungen verknoteten sich, wenn sie »sch« sagen mussten.
    »Was meinst du?«, erkundigte ich mich. »Wird sie hier irgendwo in der Gegend gefangen gehalten?«
    »Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete Clara. »Es ist gefährlich, darüber zu sprechen. Verrat wird mit dem Tod bestraft. Bitte, frag nicht weiter!«
     
    Am späten Nachmittag gelangten wir auf ein Plateau, von dem aus man gen Süden Hunderte von Kilometern weit schauen konnte. Hintereinander schichteten sich die Bergzüge in Reihen, die von Mal zu Mal blauer wurden. Die Hänge waren von Urwald bedeckt, der die Gipfel überzog wie eine Schicht Samt. So dicht standen die Bäume, dass man in den Tälern keine Bäche sah. Nur manchmal glitzerte wie ein Silberfaden ein Wasserfall an einer Steilwand. Nebelschwaden krochen durch die Schluchten. Obwohl man immer irgendwo Vögel pfeifen und Affen und Papageien schreien hörte, stieg eine immense Stille aus den Tälern herauf zu unserem Plateau.
    Damián führte uns zu einer Holzhütte, die am Waldrand stand. Sie war nach einer Seite offen und diente wohl Hirten als Regenschutz, wenn sie hier oben Rinder bewachten.
    »Hier könnten wir die Nacht verbringen«, schlug Damián vor.
    Wir stimmten zu.
    Mein Vater holte tief Luft und ließ den Blick schweifen. Er genoss unsere ungeplante Reise. Ein bisschen staunte ich immer noch, wie gelassen und freundlich er sich den Umständen anpasste. Zu Hause war er eigentlich ganz anders: pingelig mit dem Essen, geräuschempfindlich, ungeduldig und gereizt, wenn etwas nicht gleich so ging, wie er es sich vorgestellt hatte.
    »Schau mal, Jasmin, ein Kondor!«, rief er.
    Der Vogel, der ohne einen einzigen Flügelschlag seine Kreise zog, war weit weg und wirkte dennoch riesig.
    »Sie nutzen die Thermik wie ein Segelflugzeug«, erklärte mein Vater. »Sie fliegen erst, wenn es warme Aufwinde gibt. Stimmt’s, Damián?«
    Damián nickte.
    Leandro schlug vor, Feuerholz zu sammeln. Wir sattelten die Pferde ab. Mein Vater kümmerte sich um Clara, die offensichtlich mehr Kraft und Ausdauer besaß, als sie sich selbst zugetraut hatte. Elena, Leandro und ich sammelten trockenes Holz, Zweige und Äste, schichteten sie auf einen Haufen und legten aus Steinen einen Ring darum. Maria hatte uns Maisbrot, Maiskolben, Kochbananen und Dörrobst, in ein Tuch gewickelt, mitgegeben. Den Mais rösteten wir am Feuer, Clara kochte in einem Topf starken schwarzen Kaffee.
    Damián brachte aus dem Wald außerdem Wurzeln, Zwiebeln und etwas, das aussah wie kleine rote Ananas. Es waren die Blütenstände der Ananas, wie uns Clara erklärte. Deren Böden schmeckten süßlich.

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