Der Ruf des Kookaburra
mutterseelenallein zurückzulassen? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Sie schlug die Arme um ihren Oberkörper. Dann lehnte sie sich gegen den rauen Stamm des Baumes, an dessen Fuß sie saß, und durchforstete ihr Gedächtnis nach sämtlichen Informationen, die sie im Laufe der letzten Wochen von Purlimil und Birwain über die heiligen Rituale erhalten hatte.
Viele waren es nicht. Immerhin fiel ihr ein, dass das Erzählen von Geschichten, ebenso wie die Gesänge, einen wesentlichen Teil der Kulthandlungen ausmachte. Nun, damit war klar, warum sie nichts mehr hörte. Wie hatte sie das bloß vergessen können? Jetzt war schlicht und einfach Erzählstunde!
Sie erinnerte sich daran, was Birwain einmal zu ihr gesagt hatte: Die Geheimnisse und Mythen der »Traumzeit«, die für die Schwarzen eine solch große Rolle spielten, würden in mündlich weitergegebenen Geschichten lebendig gehalten; schriftliche Überlieferungen gab es nicht. Das Geschichtenerzählen, so Emmas Schlussfolgerung, war das Pendant zu Bibellesen und Kirchgang in der Gesellschaft der Weißen.
Nur dass der Kirchgang nicht so schrecklich geheim und mysteriös war wie dieses Ritual hier.
An dem sie, Emma, nicht teilnehmen durfte.
Warum hatten die Frauen sie überhaupt gebeten mitzukommen? Damit sie nun auf dem harten Boden allein in der Dunkelheit hockte, müde und enttäuscht war und wahrscheinlich bereits von Giftspinnen und Schlangen belauert wurde? Als Lohn durfte sie nichts tun, als dem Gesang aus der Ferne zu lauschen, und jetzt nicht einmal mehr das. Wirklich sehr aufschlussreich für die Wissenschaft.
Ein plötzlicher Regenschauer ging über Emma nieder, und sie zog den Kopf zwischen die Schultern. Warum hatte sie ihr Cape nicht angezogen, hätte sie sich doch denken können, dass es mal wieder regnen würde! Emmas Laune sank auf den Tiefpunkt. Jetzt war sie also nicht nur müde und durchgefroren, sondern auch noch nass. Wunderbar.
Ach, wie schön wäre es jetzt im Zelt! Carl neben ihr, sie beide unter eine warme Decke gekuschelt, nackte Haut an nackter Haut …
Es rauschte in den Blättern, als etwas durch die schwarzen Bäume auf sie zustürmte. Wie der Blitz war Emma auf den Beinen und zog ihr Messer.
Sie ließ es mit einem halb erleichterten, halb ärgerlichen Seufzer sinken, als sie Purlimil erkannte.
»Musst du mich so erschrecken?«, rief sie der Freundin entgegen. »Und überhaupt, kurz vor der Geburt sollte man sich besser nicht wie ein Berserker durchs Gebüsch schlagen, sondern …«
Sie verstummte, als sie Purlimils Gesichtsausdruck wahrnahm. Pures Entsetzen malte sich auf den schönen Zügen der Schwarzen ab.
Emma steckte das Messer weg, ging rasch auf Purlimil zu und griff nach ihren Händen. Die Freundin zitterte am ganzen Körper.
»Um Gottes willen, Purlimil, was ist passiert? Wie kann ich dir helfen? Was ist denn los? So rede doch!«
Aber Purlimil schüttelte nur den Kopf. »Komm mit«, flüsterte sie erstickt. »Du bist an der Reihe.«
Was?!
Emma kämpfte die aufsteigende Panik nieder und ballte die Fäuste. Was immer die anderen Frauen mit Purlimil angestellt hatten, sie, Emma, würde es gewiss nicht mit sich machen lassen!
»Du bist an der Reihe«, wiederholte Purlimil leise.
»Damit es mir danach genauso geht wie dir? Kommt nicht in Frage«, sagte Emma bestimmt. »Erst erzählst du mir, was passiert ist.«
Purlimil erschauerte noch einmal, dann ließ das Zittern nach, und sie senkte in einer Geste der Resignation den Kopf. Ihre Hand strich sanft über ihren Bauch, doch ihr Blick war dabei so traurig, dass Emma überhaupt nichts mehr begriff. Seit wann machte Purlimil der Gedanke an ihr Baby traurig? Die Schwangerschaft war doch von Anfang an eine Quelle der Freude für sie gewesen. Das konnte sich doch nicht so plötzlich geändert haben.
Es sei denn …
Oh bitte, das durfte nicht wahr sein!
Das Baby in Purlimils Bauch war doch nicht etwa … tot?
»Es sind zwei Babys«, flüsterte Purlimil. »Die Marmbeja haben es mir gerade enthüllt.«
»Du bekommst Zwillinge.« Vor Erleichterung lachte Emma hell auf. »Aber Purlimil, selbst wenn es stimmt, ist das doch kein Grund, so aufgelöst zu sein! Natürlich ist es anstrengend, zwei Babys zugleich zu haben, aber es ist doch auch schön. Sieh mal, die Kinder können immer miteinander spielen, wenn sie größer sind!«
Die Schwarze hob den Kopf und sah Emma verzweifelt an. »Du verstehst nicht. Wir müssen wandern, immer wieder, das
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