Der Ruf des Kookaburra
Birwain nachdenklich durch den Farnwald, der im grünen Dämmerlicht versank. Er verstand Emma und dass sie niemandem den Tod bringen mochte. Doch auch sie musste versuchen zu verstehen: Was die Geister verlangten, das musste man ihnen geben. Es war nicht an den Menschen, ihren Willen in Frage zu stellen.
Wenn Emma nicht gewillt war, ihrem Ruf zu folgen, dann würden die Geister sie dazu zwingen.
Birwain schauderte, als er sich vorstellte, wie sie das anstellen würden.
12
S ie hätte es Carl gegenüber niemals zugegeben, doch Emma wünschte sich in den nächsten Tagen oft, dass sie in der Nacht des Rituals einfach in ihrem Zelt geblieben wäre.
Sie bemühte sich, die Stunden unter dem kalkweißen Mond aus ihrer Erinnerung zu tilgen und wieder zur Tagesordnung überzugehen, aber es gelang ihr nicht. Sobald sie Gunur oder eine der anderen Frauen sah, kamen ihr die ekstatisch verzerrten Gesichter im Feuerschein wieder in den Sinn. Und wenn sie mit Purlimil sprach, wirkte diese auf Emma nicht mehr stark und selbstbewusst, sondern wie ein schicksalsergebenes Opferlamm. Eine Veränderung, die Emma ganz und gar nicht gefiel.
Die Eingeborenen jedoch schienen Emma mit neuem Respekt zu betrachten. Ihr Gefühl am Morgen nach dem Ritual hatte sie nicht getrogen: Fast alle Schwarzen verhielten sich ihr gegenüber nun gleichbleibend freundlich und zuvorkommend – sogar Gunur, die Emma bisher kaum mit Wohlwollen begegnet war.
Emma fand das seltsam. Fürchteten die Eingeborenen etwa, dass sie Emmas Zorn auf sich ziehen und somit das Ziel ihrer tödlichen Kraft werden könnten? Die Vorstellung, dass es so sein könnte, machte Emma unglücklich. Sie mochte kein weißhäutiges Schreckgespenst sein! Emma wünschte sich, so wahrgenommen zu werden, wie sie gerne sein wollte: friedlich, menschenfreundlich und ohne jede Neigung zur Gewalttätigkeit.
Nach einigen Tagen fasste sie sich ein Herz und sprach mit Birwain über ihre ungute neue Stellung im Clan. Der Schamane versuchte sie zu beruhigen: Alles sei in bester Ordnung. Der Clan habe schlicht und einfach akzeptiert, dass die Geister Emma eine wichtige und verdienstvolle Aufgabe übertragen hätten. Aber Emma brauche sich nicht zu sorgen: Der Tod von ihrer Hand treffe nur jemanden, der ihn auch verdient habe. Emma solle sich fügen, müsse sich fügen, denn alles andere vergrößere das anstehende Unglück.
Nach dieser Auskunft hätte Emma sich am liebsten die Haare gerauft. Auf eine verdienstvolle Aufgabe dieser Art konnte sie gut und gerne verzichten. Sie war weder Todesengel noch Werkzeug der Geister. Sie war Forscherin. Punktum.
Warum nur, fragte sie sich verzagt, wollte das niemand hier begreifen?
Weihnachten kam und ging vorüber, ohne dass sie in bessere Stimmung gekommen wäre.
Immer öfter ertappte Emma ihren Ehemann dabei, dass er sie verstohlen beobachtete. Carl bemühte sich um sie, war noch zärtlicher und aufmerksamer als sonst. Doch aus ihrer Grübelei konnte auch er sie nicht reißen. Selbst als er Emma am Heiligen Abend zwar keine Badewanne, aber zwei in Ipswich gekaufte brandneue Romane und als ungewohnten Luxus ein zartes Duftwasser schenkte, fühlte sie keine wirkliche Freude.
Denn jedes Mal, wenn sie Purlimils runden Leib und ihren traurigen Gesichtsausdruck sah, verfiel Emma in Verzweiflung. Verzweiflung über die Bedrohung, die wie ein Fallbeil über Purlimils Zweitgeborenem hing, und Verzweiflung über Gunurs düstere Voraussage.
An manchen Tagen hätte sie den Clan am liebsten verlassen.
Ende Dezember, die Luft lag drückend und unerträglich heiß über dem Lager, war es so weit.
Emma kam gerade vom Bach zurück, wo sie eines ihrer Kleider gewaschen hatte, als Nowalingu ihr aufgeregt entgegenlief. Dann ergoss sich ein Redeschwall über Emma, aus dem immer wieder »Purlimil« herauszuhören war.
Emma begriff sofort: Purlimil bekam ihre Babys! Und Purlimil wollte ihre Freundin bei der Niederkunft dabeihaben.
Ohne nachzudenken, drückte sie dem neugierigen Mann, der ihr am nächsten stand, ihr tropfnasses Kleid in die Hand und begann zu rennen. Die unterschiedlichsten Gefühle bemächtigten sich ihrer, als sie Nowalingu aus dem Lager hinaus ins Dickicht folgte: Rührung, dass Purlimil ihren Beistand wünschte. Freudige Erregung, die sich mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend die Waage hielt. Sorge, ob alles gut gehen würde … eine Geburt im Regenwald, ohne heißes Wasser, saubere Tücher und fachkundige Hilfe kam Emma ziemlich
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