Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
Überdosis selbst gespritzt. Nach fast einhelliger Überzeugung hatte seine Mutter sich gefährlich nahe an den zwielichtigen Randgebieten des Lebens bewegt, und so war zu erwarten gewesen, dass sie eines Tages außer Sicht geraten und dann ein schlimmes Ende nehmen würde: kalt und steif auf einem zerwühlten Bett mit schmutziger Bettwäsche.
Warum sie das getan haben sollte, konnte niemand recht erklären, nicht einmal Onkel Ted (der schweigend und erschüttert am Spültisch in der Küche lehnte), auch nicht Tante Joan (die mit verweinten Augen, aber zornig an dem kleinen Küchentisch saß und die neunzehnjährige Lucy im Arm hielt, die an ihrer Schulter schluchzte). Eine Überdosis schien einfach zu Ledas Leben zu passen – zu den Hausbesetzungen und den Musikern und den wilden Partys; zum Schmutz und Elend ihrer letzten Beziehung und ihrer Lebensumstände; zu den in ihrem Umfeld ständig verfügbaren Drogen; zu ihrer so leichtfertigen Suche nach Nervenkitzeln und Highs. Nur Strike hatte herumgefragt, ob jemand davon wisse, dass seine Mutter dazu übergegangen sei, sich Heroin zu spritzen; nur er hatte einen wesentlichen Unterschied zwischen ihrer Vorliebe für Cannabis und einer Heroinsucht gesehen; nur er hatte unbeantwortete Fragen gehabt und verdächtige Umstände vermutet. Aber er war ein zwanzigjähriger Student gewesen, auf den niemand gehört hatte.
Nach dem Strafprozess und der Verurteilung hatte Strike seine Sachen gepackt und alles hinter sich gelassen: das kurzzeitige Medieninteresse; Tante Joans große Enttäuschung über sein abgebrochenes Oxfordstudium; Charlotte, die ob seines Verschwindens empört und wütend war, aber bereits wieder mit einem anderen schlief; Lucys tränenreiche Szenen. Nur Onkel Ted hatte ihn dabei unterstützt, zur Army zu verschwinden, und dort hatte er das Leben wiedergefunden, das Leda ihn gelehrt hatte: häufige Ortswechsel, Selbstvertrauen und der immerwährende Reiz des Neuen.
Heute Abend konnte er jedoch nicht anders, als seine Mutter als spirituelle Schwester des schönen, bedürftigen und depressiven Mädchens, das zerschmettert im Schnee gelegen hatte, und der reizlosen, obdachlosen Außenseiterin zu sehen, die jetzt in einem Kühlfach des Leichenschauhauses lag. Leda, Lula und Rochelle waren keine Frauen wie Lucy oder seine Tante Joan gewesen; sie hatten nicht die vernünftigen Vorsichtsmaßnahmen gegen Gewalt oder Zufälle ergriffen; sie hatten sich nicht durch Hypotheken und ehrenamtliche Tätigkeiten, solide Ehemänner und aufgeweckte Kinder ans Leben gekettet; deswegen wurde ihr Tod nicht als »tragisch« eingeordnet, wie es bei einer gesetzten, wohlgelittenen Hausfrau der Fall gewesen wäre.
Wie leicht es doch war, den Selbstzerstörungswillen eines Menschen auszunutzen; wie einfach es war, ihn mit einem kleinen Rempler ins Jenseits zu befördern und dann zurückzutreten, mit den Schultern zu zucken und zu nicken: das sei die unvermeidliche Folge eines chaotischen, desaströsen Lebens gewesen.
Fast alle physischen Spuren des Mordes an Lula waren vernichtet, von Ermittlern zertrampelt oder zugeschneit worden; das für Strike überzeugendste Argument blieb die körnige Schwarz-Weiß-Aufnahme zweier Männer, die vom Tatort wegliefen: Beweismaterial, das die Polizei sich flüchtig angesehen und sogleich verworfen hatte, weil sie der festen Überzeugung gewesen war, niemand könne das Gebäude betreten haben, Landry habe Selbstmord verübt, und die Aufnahmen der Überwachungskameras zeigten nichts anderes als zwei Herumtreiber mit zweifelhaften Absichten.
Strike gab sich einen Ruck und sah auf die Armbanduhr. Es war 22.25 Uhr, aber er war sich sicher, dass der Mann, den er sprechen wollte, noch wach war. Er schaltete die Schreibtischlampe ein, griff nach seinem Handy und wählte eine Nummer in Deutschland.
»Oggy«, erklang eine blecherne Stimme am anderen Ende. »Wie geht’s dir, Mann?«
»Du musst mir einen Gefallen tun, Kumpel.«
Und dann bat Strike Lieutenant Graham Hardacre, ihm alle nur möglichen Informationen über einen gewissen Agyeman bei den Pionieren zu beschaffen – Vorname und Dienstgrad unbekannt, aber unter besonderer Berücksichtigung seiner Dienstzeiten in Afghanistan.
12
Es war erst das zweite Auto, hinter dessen Steuer er saß, seit er sein Bein verloren hatte. Einmal hatte er versucht, Charlottes Lexus zu fahren, aber heute hatte er sich darum bemüht, sich in keiner Weise kastriert zu fühlen, und einen Honda Civic mit Automatik
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