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Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)

Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)

Titel: Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Galbraith
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die direkt aus den Fünfzigern hätte stammen können; die Cafés, in denen sich der gehobene Mittelstand drängte; die schicken Restaurants; dies alles war Strike immer leicht unwirklich und inszeniert vorgekommen. Tief im Innern hatte er wahrscheinlich immer gewusst, dass er hier nicht bleiben würde, dass er nicht hierhergehörte.
    Bis zu dem Moment, als er die Tür aufschloss, rechnete er damit, sie in der Wohnung anzutreffen. Erst als er über die Schwelle trat, hatte er die Gewissheit, dass er allein war. Die leblose, gleichgültige Stille menschenleerer Räume schlug ihm entgegen, und seine Schritte im Flur klangen fremd und viel zu laut.
    Im Wohnzimmer standen vier Pappkartons. Die Deckel waren geöffnet, damit er ihren Inhalt leichter inspizieren konnte. Wie Flohmarktartikel waren seine billigen, zweckdienlichen Habseligkeiten vor ihm aufgehäuft. Er nahm einige Dinge heraus, um daruntersehen zu können. Allem Anschein nach war nichts zerstört, zerschnitten oder mit Farbe übergossen worden. Andere Leute in seinem Alter besaßen Häuser und Waschmaschinen, Autos und Fernseher, Möbel, Gärten, Mountainbikes und Rasenmäher. Er besaß vier Kartons voller Trödel und eine Menge unvergesslicher Erinnerungen.
    Der stille Raum zeugte mit seinem museumsreifen Teppich, den blass malvenfarbenen Wänden, den schönen dunklen Holzmöbeln und den überquellenden Bücherregalen von gutem Geschmack. Die einzige Veränderung seit Sonntagabend hatte auf dem gläsernen Beistelltisch neben dem Sofa stattgefunden. Vor fünf Tagen hatte an dieser Stelle noch ein Bild von ihm und Charlotte gestanden, wie sie am Strand von St. Mawes in die Kamera lachten. Jetzt lächelte ihn aus demselben Silberrahmen eine schwarz-weiße Studioaufnahme von Charlottes verstorbenem Vater milde an.
    Über dem Kamin hing das Ölporträt der achtzehnjährigen Charlotte. Das Antlitz eines Florentiner Engels in einer Wolke aus schwarzem Haar. In ihrer Familie war es Tradition, den Nachwuchs von Kunstmalern für die Ewigkeit festhalten zu lassen: die Marotte eines Milieus, das Strike völlig fremd war und in dem er sich wie auf feindlichem Territorium bewegte. Charlotte hatte ihn gelehrt, dass jener für ihn unvorstellbare Reichtum durchaus mit Unglück und Barbarei vereinbar war. Trotz aller Eleganz und Schicklichkeit, trotz allen Anstands und aller Kultiviertheit, des hohen Bildungsgrads und des gelegentlichen Hangs zur Extravaganz war ihre Familie noch viel verrückter und verschrobener als seine eigene, was ein starkes Bindeglied zwischen Charlotte und ihm gewesen war, als sie sich kennengelernt hatten.
    Als er sich das Porträt ansah, kam ihm ein überaus abstruser Gedanke in den Sinn: Es mochte nur deshalb gemalt worden sein, damit die großen grünbraunen Augen eines Tages seinen Abschied beobachten konnten. Ob Charlotte wusste, wie es sich anfühlte, unter den Augen ihres bezaubernden achtzehnjährigen Abbilds durch eine leere Wohnung zu streifen? Ob sie ahnte, dass ihm das Gemälde noch stärker zusetzte als ihre tatsächliche körperliche Anwesenheit?
    Er wandte sich ab und durchsuchte die anderen Räume, doch sie hatte ganze Arbeit geleistet. Jede Spur von ihm, von seinen Armeestiefeln bis hin zur Zahnseide, war in den Kartons verstaut. Dem Schlafzimmer widmete er besondere Aufmerksamkeit. Der Raum mit den dunklen Bodendielen, den weißen Vorhängen und der filigranen Frisierkommode strahlte Ruhe und Würde aus. Genau wie das Porträt kam ihm auch das Bett wie ein lebender, atmender Organismus vor. Erinnere dich an das, was hier passiert ist und was nie wieder passieren wird.
    Nacheinander trug er die vier Kartons über die Türschwelle. Bei der letzten Kiste begegnete er einem höhnisch grinsenden Nachbarn, der gerade seine eigene Tür absperrte. Der Mann trug Rugbyshirts mit aufgestellten Kragen und wieherte für gewöhnlich bei jedem noch so kleinen Bonmot aus Charlottes Mund.
    »Na, beim Ausräumen?«, fragte er.
    Strike schlug ihm Charlottes Tür vor der Nase zu.
    Vor dem Spiegel im Flur zog er den Schlüssel von seinem Bund und legte ihn vorsichtig auf den halbmondförmigen Konsolentisch neben die Potpourrischale. Sein zerknittertes, ungewaschenes Gesicht starrte ihm entgegen; sein rechtes, noch immer geschwollenes Auge schillerte gelb-violett. In der Stille hallte eine Stimme von vor siebzehn Jahren in seinem Kopf wider: »Wie zum Teufel kriegt ein potthässlicher Muschikopf wie du so eine ab, Strike?« Und jetzt, da er in einem Flur

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