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Der Ruf des Kulanjango

Der Ruf des Kulanjango

Titel: Der Ruf des Kulanjango Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gill Lewis
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diesem einen Augenblick: Ich war ebenso Teil ihrer Welt wie sie Teil meiner. Der Gedanke drängte sich mir auf, dass sie vielleicht, nur vielleicht, tief in ihrer Vogelseele vom Versprechen wusste, das ich Iona gegeben hatte.

    16:10 WEZ
    NISTPLATZ.
    SCHOTTISCHES HOCHLAND

    Iris flog hinauf zum Himmelszelt, durch das Sonnenlicht, das sich in den Wolken brach, hinauf in die kalte, klare Luft. Vorher umkreiste sie ein letztes Mal das Nest. Ihr Partner hatte sich das Gefieder geputzt und es nach dem heftigen Regen eingefettet. Das Adlerweibchen zog es weg vom Horst, den beide aus Stöcken und Gräsern errichtet hatten, weg von den hartnäckigen Rufen desausgewachsenen jungen Vogels, den sie in diesem Sommer großgezogen hatten.
    Der Ruf des Südens war zu mächtig geworden.
Sie musste einfach fliegen. Der Drang aufzubrechen pulsierte in ihr, tief in ihr drin, fest mit jedem Nerv, mit jeder Faser ihrer Muskeln, mit jeder Zelle verbunden. Jeden Tag stieg die Sonne am Horizont ein bisschen weniger hoch. Jeden Tag senkte sich die Himmelsbahn der Sonne ein bisschen mehr und näherte sich dem blassblauen Bogen des südlichen Horizonts.
    Iris flog hinauf zum Himmelszelt und ließ sich von der Strömung des kalten Nordwindes treiben. Der Aufwind wogte unter ihrem Gefieder und trug sie mit sich, durch das Gewebe dahinziehender Wolken. Das war ihre Welt – die Welt des unermesslichen Himmels und die Welt des Meeres, der Seen und Flüsse unter ihr, in denen sich der Himmel spiegelte. Sie flog hoch hinauf in die schnellen Winde und ließ die uralte Landschaft der Bergesgipfel, der funkelnden Seen und breiten Flusstäler hinter sich.

Kapitel 19
    In der Kirche war es kalt. Rob und Euan unterhielten sich miteinander über meinen Kopf hinweg. Ich saß schweigend zwischen ihnen und beobachtete die goldenen Schleier aus Staub, die in den Sonnenstrahlen schwebten, die durch die hohen Fenster hereinströmten.
    »Hast du dein Antibiotikum genommen?«, fragte Rob.
    »Schmeckt scheußlich, nicht wahr?«, flüsterte Euan. »Mum hat Angst, dass ich auch wegen Meningitis tot umfalle. Am liebsten würde sie mich nicht mehr aus den Augen lassen.«
    Rob nickte. »Wie meine Mum. Alle fünf Minuten misst sie meine Temperatur. Ich kann gar nicht glauben, dass wir jetzt schon fast zwei Wochen keine Schule haben.«
    Für Iona wurde ein Gedenkgottesdienst zelebriert. Mum und Dad saßen hinter mir. Hamish hatte ich in einer Reihe weit vorne entdeckt. Lehrer, Kinder und Eltern füllten die kleine Kirche. Auf dem Steinboden scharrten Füße und die Stimmen stiegen nach oben und fingen sich unter dem Dachgesims. Ich verkrallte die Fingernägel in meinen Händen und wartete.
    Als Pastor Parsons den Mittelgang entlangschritt und hinter ihm, ganz langsam, der alte Mr McNair, wurde es im Kirchenraum still. An seiner Seite schlurfte, Arm in Arm mit ihm, eine Frau, Ionas Mutter. Ich erkannte sie vom Foto in Ionas Medaillon wieder, aber jetzt war ihr Gesicht grau und faltig und ihre dunklen Augen waren tief in den Augenhöhlen versunken. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie jemals eine Tänzerin gewesen war. Sie hielt den Kopf gesenkt, als ob sie spürte, dass sich in der Kirche alle Augen auf sie richteten.
    Pastor Parsons half ihnen auf ihre Plätze und stieg hinauf in seine mit Adlerflügeln verzierte Kanzel. In meinen Gedanken rannte ich gerade mit Iona über die Hügel, als er über unseren Köpfen seine Stimme erhob. Zwei Mädchen aus der Klasse lasen Gedichte vor und eines sang ein Lied. Dann stimmten wir alle »All Things Bright and Beautiful« an, Ionas Lieblingslied.
    Am Ende des Gottesdienstes, als Mr McNair und Ionas Mutter aus der Kirche gingen, standen wir alle auf. Vor meiner Kirchenbank machten die beiden halt. Ionas Mutter drehte sich zu mir. Sie hielt ihre Hände ineinander verschränkt, als würde sie beten. Die Hände zitterten heftig. Ihre Haut war weiß wie Pergament und mit dunklen, krakeligen, blauen Flecken bedeckt.
    »Callum McGregor?«, sagte sie.
    Sie sprach mit dünner, heiserer Stimme, als würde ihr jedes Wort wehtun.
    Ich nickte.
    »Ich denke, das gehört jetzt dir.«
    Sie umschloss meine Hände und drückte mir ein kleines herzförmiges Medaillon an einem Kettchen in die Hand. Es war das Medaillon, das Iona immer um ihren Hals getragen hatte. Ionas Mutter drückte meine Hand ganz fest und wandte sich wieder ab.
    Ich ließ das Medaillon aufschnappen und wünschte sofort, ich hätte es nicht getan. Auf der einen Seite befand

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