Der Ruf des Satyrs
bloß aus und kriegst diesen Satyr aus deinem Kopf.« Sachte führte sie Eva zum Bett, schlug die Decken zurück und schob Eva neben Mimi und Lena ins Bett. Danach deckte sie sie warm zu, als wäre Eva ebenfalls noch ein Kind. »Hier drin werdet ihr drei keinen Unfug anstellen. Ihr werdet’s nich’ mal merken, wenn ich weg bin. Odette kümmert sich schon um alles.«
Eva seufzte in ihr Kissen und nahm nur noch vage wahr, wie die Tür von außen abgeschlossen wurde. Als Odettes hinkende Schritte sich durch die Halle entfernten, war sie bereits eingeschlafen.
Viel später – obwohl es ihr so vorkam, als wären nur Minuten vergangen – rüttelten Lena und Mimi sie wach, und die Sonne des späten Nachmittags neigte sich bereits dem pinkfarbenen Horizont zu.
»Du liebe Güte! Wie lange haben wir geschlafen?«, fragte Eva, während sie sich aufsetzte.
»Die ganze Nacht und fast den ganzen Tag«, antwortete Lena. »Gerade eben, als Odette den Garten verlassen hat, hat uns das Quietschen des Tores geweckt.«
Odette. Ein kalter Schauer lief Eva über den Rücken. Sie konnte kaum glauben, was die Frau ihr gestern erzählt hatte. Doch sie glaubte es, und es jagte ihr Angst ein. Sie musste die Mädchen und sich selbst in Sicherheit bringen, bevor Odette zurückkehrte.
»Ich muss auf den Nachttopf, aber die Tür ist zugesperrt«, klagte Mimi und hüpfte von einem Fuß auf den anderen.
Eva wies mit der Hand zum Badezimmer. »Nimm meinen. Und vergiss nicht, dir danach die Hände zu waschen!« Sie schüttelte die Schläfrigkeit ab und schlüpfte aus dem Bett. Nachdem sie sich an dem Becken in ihrem Zimmer die Zähne geputzt hatte, versuchte sie, die Tür zu öffnen.
»Sie ist abgesperrt, das habe ich doch gesagt!«, rief Mimi mürrisch aus dem Badezimmer.
Eva fand eine Haarnadel, ging auf die Knie und versuchte damit, das Schloss zu öffnen. »Was ist gestern passiert?«, fragte sie Lena über die Schulter. »Ihr seid nicht einfach so von allein weggelaufen, nicht wahr?«
»Odette hat gesagt, dass uns die Dämonen holen, wenn wir etwas verraten«, wich Lena aus.
»Sie kann keine Dämonen beschwören«, versicherte Eva.
»Ich wusste es!«, rief Lena zufrieden aus. »Sie ist nur eine böse alte Frau. Gestern hat sie uns im Park allein gelassen und ist mit einer feinen Dame in ihrer Kutsche weggefahren. Uns wurde kalt, also gingen wir nach Hause.«
Eva drückte ihr kurz das dünne Ärmchen und fuhr dann fort, am Schloss zu rütteln. »Es tut mir leid, dass das geschehen ist, und ich bin froh, dass euch nichts zugestoßen ist. Odette ist krank. Ich möchte, dass ihr beide euch von nun an von ihr fernhaltet.« Sie versuchte, nicht an ihren Vater und an die Tatsache zu denken, dass er durch Odettes Hand den Tod gefunden hatte. Daran, dass Fantine all die Jahre auf ihn gewartet hatte, ohne jemals den wahren Grund dafür zu erfahren, warum er nicht gekommen war, um sie zu holen, wie er es versprochen hatte. Wie viel Unheil Odette doch angerichtet hatte! Wie konnte sie nur denken, sie hätte zum Besten aller gehandelt? Sie selbst war einst durch die Hand eines Mannes verletzt worden, doch niemand hatte je erkannt, wie sehr das ihren Verstand getrübt hatte. Wie konnte ihnen das all die Jahre entgangen sein?
Nachdem sich herausgestellt hatte, dass das Schloss nicht zu öffnen war, kleidete Eva sich hastig an und dachte fieberhaft über einen Fluchtplan nach. Dieses Zimmer, in dem sie zu Vollmond regelmäßig eingesperrt war, hatte sich nun in ein noch weit schrecklicheres Gefängnis verwandelt.
»Ich habe Hunger«, klagte Mimi, als sie aus dem Badezimmer kam.
»Ich weiß. Wir müssen einen Weg finden, hier herauszukommen«, erklärte Eva. Sie ging zum Fenster, öffnete es und lehnte sich über die schmiedeeiserne Brüstung. Wenn sie versuchten, da hinunterzuspringen, würden sie sich die Knöchel brechen oder Schlimmeres.
»Wenn du Rapunzel wärst, könntest du jetzt dein Haar herunterlassen«, meinte Mimi, die anscheinend ihre Gedanken erraten hatte.
Eva drehte sich von der Brüstung zu Mimi um und küsste sie auf den Kopf. »Das ist brillant, Mimi!«
Lenas Gesicht hellte sich auf, sie hatte sofort verstanden. »Wir können die Bettlaken zusammenbinden.«
»Und sie vielleicht noch mit einem Kleid oder zwei verlängern«, fügte Eva hinzu. Sie riss die Laken und Decken vom Bett und fing an, sie zu einem behelfsmäßigen Seil zusammenzuknoten, an dem sie hinabklettern konnten. Eine halbe Stunde später band sie das
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